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Ein Resümee

Roman Obrovski

Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzugroßen Schaden anzurichten?
KARL POPPER, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Wettbewerb zwischen lokalen Behörden oder zwischen größeren Einheiten innerhalb eines Gebietes, in dem Bewegungsfreiheit herrscht, bietet in weitem Ausmaß jene Gelegenheit, mit verschiedenen Methoden zu experimentieren, die die meisten Vorteile einer freien Entwicklung sichern wird
FRIEDRICH A. VON HAYEK, Die Verfassung der Freiheit

Den meisten Menschen ergeht es wie Historikern: Erst im Rückblick erkennen sie die Zusammenhänge ihrer durchlebten Erfahrungen
ERIC HOBSBAWM, Das Zeitalter der Extreme - Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts




Am 1. August 1960 bin ich als Lehrling in das Beschäftigungssystem eingetreten. Am 1. August 2010 scheide ich aus dem Berufsleben aus.

To whom it may concern: Teil 1 dieses Textes rekapituliert den Umbau der Institution und Veränderungen im Management des AMS seit Ende der siebziger Jahre, soweit ich daran beteiligt war. Teil 2 enthält Antworten auf einige Fragen und Vorwürfe, die verschiedene Personen jüngst oder im Lauf meines Berufslebens so oder so ähnlich an mich adressiert haben
(19. 02. 2010).


 

Vorbemerkung

Karl Popper war überzeugt, "dass zwar die politischen Tagesfragen eine personelle Lösung fordern, dass aber jede Art von Politik, die sich auf größere Zeiträume erstreckt - und insbesondere die langfristige Politik von Demokratien -, auf der Grundlage unpersönlicher Institutionen konzipiert werden muss" (Popper, Karl, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2, Kapitel 3, VII)

Unpersönliche Institutionen begrenzen die Macht von Personen:

"Es ist schwer, einen Menschen zu finden, dessen Charakter durch sie nicht verdorben wird. Wie Lord Acton sagt - Macht führt zur Korruption und absolute Macht zur absoluten Korruption" (ibd., Band 1, Kapitel 7, V).

Popper griff Platons Maxime "Der Weise soll herrschen und der Unwissende soll ihm folgen" daher als Ideologie machthungriger Eliten an (1).

Er plädierte dafür, Platons Frage "Wer soll herrschen?" durch die Frage zu ersetzen "Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzugroßen Schaden anzurichten?"

Macht auf Zeit, Gewaltenteilung und staatliche Kontinuität durch intakte öffentliche Institutionen sind dazu geeignete Vorkehrungen - das lehrt die Geschichte der Europäer.

Damit eine Institution nicht zum Spielball "schlechter und inkompetenter Herrscher" wird, muss sie in maßgeblichen Gruppierungen der Gesellschaft Vertrauen und Rückhalt genießen. Das erschwert es Machthabern, aus Unfähigkeit oder Willkür Schaden anzurichten.

Vertrauen und Rückhalt in der Gesellschaft erwirbt eine Institution, wenn sie die unterschiedlichen bis gegensätzlichen Interessen der Bürger in ihrem Kompetenzbereich richtig behandelt. "Richtig" ist diese Behandlung, wenn sie hilft, Interessensunterschiede auszugleichen, statt sie zu "antagonistischen Widersprüchen" (2) und gewaltsamen Konflikten auswachsen zu lassen.

Dennoch greifen Machthaber immer wieder in öffentliche Institutionen ein, um partikuläre Interessen durchzusetzen. Besteht etwa das Management öffentlicher Institutionen nicht überwiegend aus Personen, die den Interessen bestimmter Gruppierungen und Machthabern mehr verpflichtet sind als dem Anspruch, integrierend zu wirken?

Gewiss. Dass eine öffentliche Institution nicht am parteipolitischen Nasenring geführt oder nicht ohnmächtig zwischen widerstreitenden Interessen hin und her gerissen wird, das ist so unwahrscheinlich wie ein Wackelstein. Aber es gibt solche Steine. Labil im Gleichgewicht über geraume Zeit.





TEIL 1

Die alte AMV

Mein Interesse an Politischer Ökonomie und der Zufall hatten mich 1975 in die Arbeitsmarktverwaltung geführt. 1987 war ich zum Leiter des Landesarbeitsamtes Oberösterreich bestellt worden (3). Dies schien bisher verschlossene Gestaltungschancen zu eröffnen.

Im Vergleich zu anderen öffentlichen Einrichtungen, in die ich seit 1975 Einblick gewonnen hatte, war die Arbeitsmarktverwaltung offener für inhaltliche, technische und organisatorische Neuerungen. Dieser Umstand war nach meiner Wahrnehmung vor allem das Verdienst des damaligen Sektionschefs Franz Lenert. Zäh und unbeirrt hatte er seit den siebziger Jahren Veränderungen nach dem Vorbild der schwedischen Arbeitsmarktverwaltung vorangetrieben.

Dabei war er auf ebenso zähe retardierende Momente gestoßen: auf eine in traditionellen Vorgangsweisen festgefahrene Beamtenschaft und auf eine autoritär geprägte Mentalität im Apparat. Einige sprachliche Indikatoren des autoritären Charakters der alten AMV haben sich in manchen Bereichen des AMS bis zur Gegenwart gehalten, wie "Zuweisung" oder "Maßnahme". Sogar der nationalsozialistische Begriff "Gefolgschaftsraum" war noch vor Jahren von älteren Bediensteten als Bezeichnung für den Sozialraum zu hören.

Die Sozialschmarotzer-Debatte

Nach den Herbstwahlen 1986 eröffnete Sozialminister Alfred Dallinger die erste Tagung der designierten Leiter der Landesarbeitsämter mit den Worten: "Meine Herren, der Wind bläst der Arbeitsmarktverwaltung ins Gesicht".

Ein Netzwerk privater Dienstleister, Berufspolitiker und Journalisten hatte sich formiert. Es machte die staatliche Arbeitsmarktverwaltung für die steigende Arbeitslosigkeit verantwortlich. Es sei an der Zeit, diesen ineffizienten Hort für Sozialschmarotzer (4) durch effektive und kostengünstige private Dienstleister zu ersetzen.

Sogenannte "Alternative" (5) behaupteten hingegen, das Heil auf dem Arbeitsmarkt sei durch den Ausbau sozialökonomischer Betriebe und gemeinnütziger Projekte zu realisieren.

Den Privatisierern war zuzustimmen, dass es beträchtliche Verbesserungspotentiale in der Arbeitsmarktverwaltung gab. Eingelullt von einer einmaligen, außerordentlichen Periode der Vollbeschäftigung (6) mangelte es in der AMV an Markt- und Zielorientierung. Der versulzte Apparat war gewohnt, dass Stellen "gemeldet" wurden und Arbeitslose ohne besondere Unterstützung Beschäftigung fanden.

Sozialökonomische Betriebe und gemeinnützige Projekte waren gewiss hilfreiche Ansätze: sie boten Personen mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit vorübergehend Schutz und Entwicklungschancen. Diese Einrichtungen zur Mutter aller Problemlösungen auf dem Arbeitsmarkt hochzujubeln aber war weltfremd.



Exkurs: Rahmenbedingungen der Arbeitsmarktpolitik aus dem Blickwinkel der Politischen Ökonomie*

Arbeitslosigkeit im Kapitalismus läßt sich weder verhindern noch abschaffen. Arbeitslosigkeit ist systemimmanent.

Der charakteristische Lebenslauf der modernen Industrie .... beruht auf der beständigen Bildung, größern oder geringern Absorption und Wiederbildung der industriellen Reserveearmee oder Übervölkerung (Karl Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 661).

"Reservearmee" klingt antiquiert, der damit bezeichnete Sachverhalt ist aber nach wie vor Realität: Die rastlose Suche des Kapitals nach Verwertung stimuliert unaufhörlich neue Produkte, Prozesse und Technologien, die bisherige Produkte, Prozesse und Technologien in ihrem Stellenwert verändern oder ablösen. Unmittelbar damit verbunden ist die ständige, expansive Suche nach "passenden" Arbeitskräften in aller Welt und die zugleich sinkende Nachfrage nach nicht mehr passenden Arbeitskräften:

...dass über Mangel an Händen geklagt wird zur selben Zeit, wo viele Tausende auf dem Pflaster liegen, weil die Teilung der Arbeit sie an einen bestimmten Geschäftszweig kettet (Karl Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 671).

Betroffen von der expansiven Dynamik des kapitalistischen Wirtschaftssystems sind besonders Menschen, deren Anpassungsfähigkeit aus verschiedenen Umständen eingeschränkt ist. Sie werden am schnellsten aus dem Beschäftigungssystem geschleudert oder erst gar nicht in dieses eingelassen.

Es sind namentlich Individuen, die an ihrer durch die Teilung der Arbeit verursachten Unbeweglichkeit untergehn, solche, die über das Normalalter eines Arbeiters hinausleben, endlich die Opfer der Industrie... Verstümmelte, Verkrankte, Witwen etc... das tote Gewicht der industriellen Reservearmee (Karl Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 671).

In den entwickelten kapitalistischen Ländern mildern Sozialversicherung und Arbeitsmarktpolitik die Auswirkungen der zentrifugalen Kräfte des Arbeitsmarktes, die Karl Marx vor Augen hatte und die sich in seinen drastischen Formulierungen niederschlagen.

Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktpolitik sind systemkonforme Konzessionen des Kapitals an die Arbeitskraft: sie dienen der Bereit- und Wiederherstellung passender Arbeitskraft und erleichtern die Akzeptanz des kapitalistischen Wirtschaftssystems als "Soziale Marktwirtschaft" **.

Arbeitsmarktpolitische Hilfestellungen orientieren sich an den spezifischen Hindernissen, die Arbeitsuchende von der Teilnahme am Beschäftigungssystem ausschließen. Diese Hindernisse gilt es zu beseitigen oder zu verringern, um die Zahl der Ausgegrenzten und die Dauer ihrer Ausgrenzung zu minimieren.

Nicht die Größe der Gesamtnachfrage hält den Strom in Fluß, sondern jene sich rasch anpassende Umstellung der Flüßchen, aus denen er sich bildet, die durch das Spiel der Preise bewirkt wird - jene unwillkommenen Signale, die den Menschen sagen, dass sie etwas anderes tun müssen, als sie beabsichtigen (Friedrich A. von Hayek, Der Strom der Güter und Leistungen, 1981)

Je schneller, je entschlossener und einfallsreicher auch die Arbeitsmarktpolitik die "Umstellung der Flüßchen" in jedem Einzelfall angeht, umso erheblicher ist ihr Effekt. Je später, je lauer und je schematischer sie herumdoktert, umso höher fällt die Arbeitslosigkeit aus.

___________________________________________

* Die Politische Ökonomie verfolgt als Zweig der Wissenschaft, die eine Lehre für den Staatsmann und Gesetzgeber entwickeln will, zwei unterschiedliche Ziele. Einmal untersucht sie, wie ein reichliches Einkommen zu erzielen oder der Lebensunterhalt für die Bevölkerung zu verbessern ist, zutreffender, wodurch der einzelne in die Lage versetzt werden kann, beides für sich selbst zu beschaffen, und ferner erklärt sie, wie der Staat oder das Gemeinwesen Einnahmen erhalten können, mit deren Hilfe sie öffentliche Aufgaben durchführen (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1775)

Es war ein ungeheurer Fortschritt von Adam Smith jede Bestimmtheit der reichtumerzeugenden Tätigkeit fortzuwerfen - Arbeit schlechthin... die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit entspricht einer Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre übergehn... (Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, 1857)

** Im Wettbewerb der Systeme nach 1945 konnten Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien im Westen dem Kapital im Schatten des kommunistischen Blocks bis dahin unerreichte Konzessionen abringen ("Soziale Marktwirtschaft"). Seit dem Bankrott der Sowjetunion müssen die Arbeitskräfte im Westen sich einer weltweiten Konkurrenz stellen: Soziale Marktwirtschaft als Privileg des Westens hat ausgedient. Nur globale Lösungen in der einen oder anderen Richtung sind möglich.

Charakteristisch für die kapitalistische Produktion ist ihr zyklischer Charakter:

Entfesselte Produktivkräfte sorgen für Wachstum und beschleunigen die Veränderung. Mithilfe eines ungezügelten Kreditsystems verwischen viele Akteure immer wieder den Unterschied zwischen (gewünschtem) Bedarf und (leistbarer) Nachfrage:

Wenn die Gewinne einmal höher als üblich sein sollten, so weiten die Kaufleute, ob groß oder klein, ihre Geschäfte irrtümlich übermäßig aus... kaufen sie... ungewöhnlich viele Waren auf Kredit, die sie dann... in der Hoffnung anbieten, der Erlös werde schon noch eingehen, bevor die Rückzahlung des Kredits ansteht (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1775)

Die Akkumulation ungedeckter Wechsel auf die Zukunft wird bis zum Zusammenbruch ausgereizt (zuletzt in exorbitanter Weise 2008). Bei der Aufarbeitung der Schäden kommt es oft zum Entschulden der Schuldner zu Lasten der Gläubiger und der Unbeteiligten in Form von Steuern, Leistungseinschränkungen und / oder Inflation:

Mithilfe solcher Manipulationen sahen sich Herrscher und souveräne Staaten in der Lage, dem Anschein nach ihre Schulden zurückzuzahlen... Geldentwertungen haben sich also stets günstig für den Schuldner und äußerst nachteilig für den Gläubiger ausgewirkt und zuweilen die Vermögen der Privatpersonen weit stärker und nachhaltiger umgeschichtet als irgendein nationales Unglück (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1775)

Dann beginnt der Zkylus auf höherer Stufenleiter von Neuem. Da und dort finden sich dabei neue Momente. In eine grundsätzlich andere politisch-ökonomische Qualität aber hat diese zyklische Dynamik entgegen marxistischer Erwartung bisher nicht umgeschlagen. Selbst die jüngste Weltwirtschaftskrise hat nur den Ruf nach systemimmanenten Reformen provoziert. Das voluntaristisch etablierte kommunistische System hat sich nicht als Alternative, sondern als Sackgasse erwiesen.

Schlecht behandelte Widersprüche treiben Wirtschaft und Politik auf Konflikte und Katastrophen zu. Institutionen wie das AMS tragen dazu bei, den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit nicht eskalieren zu lassen und auf der Ebene verhandelbarer Interessen zu halten. Ständig gefährdet ist die Arbeit und Existenz solcher Institutionen durch Opportunisten, Karrieristen und Fanatiker aus allen politischen Lagern.



Nach meiner Wahrnehmung war die Arbeitslosigkeit unnötig hoch, weil sie im Einzelfall viel zu lang dauerte. Perioden der Arbeitslosigkeit konnten durch raschere und effektivere Hilfestellungen verkürzt und in ihren unerwünschten Auswirkungen gemildert werden.

Was stand dieser Strategie entgegen?

Dreierlei:

1) die schwerfällige, zentralistische Struktur der AMV

2) der Ballast in der Organisation durch Aufgaben, die nicht unmittelbar arbeitsmarktbezogen waren

3) die "systemkritische" Einstellung von Funktionsträgern, die Dynamik des Arbeitsmarktes als Zumutung und Bedrohung, statt als Chance für Arbeitskräfte zu begreifen.

Im September 1988 hatte ich als Vertreter des Sozialministers an der Herbsttagung der International Labour Organization (ILO) in Genf teilgenommen. Dabei hatte ich die drittelparitätische Struktur dieser UNO-Organisation näher kennengelernt.

Im Unterschied dazu war die AMV eine nachgeordnete Behörde des Sozialministeriums. Den Sozialminister stellte seit 1945 der Gewerkschaftsbund. Die Sozialpartner waren in Ausschüssen und Beiräten vertreten, hatten aber keinen unmittelbaren Einfluss auf Ziele, Programme und Vorgangsweisen der AMV. Autokratischer Herr dieser Organisation war der Sozialminister (7).

Diese starre Struktur mit einem einzigen Beweger an der Spitze war den Herausforderungen eines dynamisch gewordenen Arbeitsmarktes nicht gewachsen. Dallinger überstrahlte diesen Umstand zuweilen mit umstrittenen, "visionären" Ideen. Mit seinem Tod erlosch dieser Schein von einem Tag auf den anderen.

Die Reform

Unter meiner Mitwirkung (ab 1978) und Leitung (ab 1980) hatte das Arbeitsamt Linz als Pilotgeschäftsstelle für maßgebliche Neuerungen fungiert. Die ursprünglichen Impulse waren von Franz Lenert ausgegangen, den ich sehr schätzte. Wir arbeiteten in vorderster Linie an der Entwicklung der "EDV-unterstützten Arbeitsvermittlung", an der Implementierung neuer Arbeitsweisen und an der Verflachung der Aufbauorganisation.

"Wir" - das waren neben mir einige jüngere Führungskräfte wie Ewald Warras, Manfred Gaier und Günther Leitner sowie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Arbeitsamtes, die offen für Veränderungen waren.

Wir integrierten umständliche, arbeitsteilige Verfahren ("Antragsentgegennahme und Bearbeitung", "Beratung und Vermittlung"), verringerten die Anlaufstellen für Arbeitsuchende ("personenbezogene Zuständigkeit"), forcierten die Qualifizierung der Mitarbeiter und befragten 1986 unsere Kunden, ob sie eine Ausweitung der Dienste unseres Offenen Kundenempfangs wünschten. Wir verstärkten Vermittlungsaktivitäten und richteten unsere Vorgangsweisen nach dem Prinzip "Aktivierung vor Versorgung" aus.

Das alles weckte Widerstand, aber auch Interesse. Vertreter der deutschen Bundesanstalt für Arbeit besuchten mehrmals das Arbeitsamt Linz. Unter Führung ihres damaligen Präsidenten Franke informierte sich im Frühjahr 1987 auch der Vorstand der Bundesanstalt über die Organisationsentwicklung in Linz. Danach wurde in Deutschland unser "Offener Kundenempfang" als "Stelleninformationsservice" eingeführt.

Als Leiter des Landesarbeitsamtes trieb ich die Umsetzung dieser Neuerungen landesweit voran. Begleitet war dies von lebhaften, zum Teil heftigen Diskussionen mit Führungskräften, Personalvertretern und Mitarbeitern der Arbeitsämter, des Ministeriums und alarmierten Funktionären der Sozialpartner. Dabei schälte sich für mich immer deutlicher heraus, was strukturell zu verändern war, um eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik operativ zu erleichtern:

1. Die Einbindung der Sozialpartner in die AMV nach dem Vorbild der ILO

2. die Ausrichtung der Institution auf arbeitsmarktbezogene Lösungen

3. ein Management, dessen Handlungsraum von unmittelbaren politischen Eingriffen abgekoppelt war.

Am 27. 9. 1990 schlug ich im Rahmen eines Pressegesprächs die Ausgliederung der Arbeitsmarktverwaltung vor und eine drittelparitätische Eigentümerstruktur zur Verbesserung von Effektivität, Effizienz und Akzeptanz öffentlicher Arbeitsmarktdienste. Diesen Vorschlag hatte ich mit aufgeschlossenen Führungskräften und Vertretern der regionalen Sozialpartner abgestimmt.

Publiziert habe ich diesen Vorschlag und die Argumentation dazu in der Dezembernummer 1990 der Wirtschafts- und sozialpolitischen Zeitschrift des ISW, des Forschungsinstituts der Arbeiterkammer Oberösterreich (8).

Wie nachzulesen, sind die wesentlichen Elemente dieses Vorschlags (Priorität der aktiven Arbeitsmarktpolitik gegenüber Versorgungsagenden, Abgabe von nicht arbeitsmarktbezogenen Leistungen an andere Einrichtungen, Dezentralisierung der Organisation, Drittelparität der Eigentümer, Arbeitsmarktakademie...) 1994 mit dem AMSG umgesetzt worden.

Zunächst freilich wurde ich zurechtgewiesen. Am 28. 9. 1990 erhielt ich aus dem Kabinett des Sozialministers die telefonische Weisung, am 4. 10. 1990 um 1315 Uhr zum Rapport zu erscheinen. In Anwesenheit seiner Sekretäre und des Sektionschefs für Personalangelegenheiten sprach Minister Geppert eine offizielle Ermahnung aus: ich hatte mit diesem Vorschlag meine Kompetenzen überschritten (9).

Die Kuh jedoch war aus dem Stall. Nach der Ablöse Gepperts kam es zu einem politischen Prozess, der 1994 in der Ausgliederung der AMV ganz nach meinem Sinn mündete (10). Der von Franz Lenert in den frühen siebziger Jahren geprägte Begriff "Arbeitsmarktservice" war mir stets treffend erschienen als Bezeichnung für das Kerngeschäft der AMV. "Arbeitsmarktservice" wurde zum Namen und zum Programm der neuen Organisation.

Die Entwicklung des AMS

Mit der Institutionalisierung des AMS beschloss der Gesetzgeber zugleich die Freigabe der gewerblichen Arbeitsvermittlung. Das AMS hatte sich privater Konkurrenz zu stellen. Bei der Auswertung einer arbeitsmarktpolitischen Aktion stieß ich auf ein Instrument, das mir sehr geeignet schien, dieser Herausforderung erfolgreich zu begegnen.

1993 hatte ich in Oberösterreich mit Mitteln der sogenannten "Strukturmilliarde" die Unterstützung der beruflichen Weiterbildung von 5.000 beschäftigten Arbeitskräften über 30 mit maximal Lehrabschluss initiiert und umgesetzt (11). Anlass dazu war für mich die Erfahrung mit den fatalen Auswirkungen der unseligen "Krisenregionsverordnung". Eine nachhaltige Frühpensionsfreudigkeit in Österreich war die Folge (12).

Um die Planung unserer Qualifizierungsangebote für Arbeitslose an den Bedarfen der Unternehmen besser auszurichten, werteten wir aus, für welche Schulungsinhalte die oberösterreichischen Betriebe unser Angebot genutzt hatten. Es stellte sich heraus, dass unsere Leitbetriebe geradezu massenhaft Ausbildungen zum Thema Qualitätssicherung durchgeführt hatten.

Ich besuchte ein Seminar zur ISO 9000. Genau das, fand ich, fehlte dem AMS: qualitätsgesicherte Prozesse. Ich organisierte ein zweites Seminar und lud dazu eine Handvoll Führungskräfte ein, von denen ich mir Unterstützung bei meinem Vorhaben versprach.

Im Mai 1995 wurde unser noch junges "Betriebsservice", der regionale Vorläufer des späteren österreichweiten Service für Unternehmen, nach ISO 9000 zertifiziert (13). Wir kamen uns vor wie bei der Matura. Die ÖQS teilte uns mit, dass wir ihres Wissens die erste öffentliche Einrichtung Europas waren, die sich einer solchen Zertifizierung unterzogen hatte.

Der Zertifizierungsprozess hatte unseren Blick für die Defizite des Unternehmens geschärft. Mithilfe eines Geschäftsoptimierungsprozesses schlankten wir die Landesgeschäftsstelle zugunsten der regionalen Geschäftsstellen ab. Eine Fülle an Projekten zur Kundenorientierung folgten. Eines dieser Projekte (LEBE beim AMS Linz) wurde zum Vorbild der Integration von Leistung und Service im Rahmen der 3-Zonen-Organisation.

Qualitätsmanagement war zum wichtigsten Hebel bei der weiteren Entwicklung des AMS OÖ geworden. Seit dem Herbst 1997 orientierten wir unsere Verbesserungsaktivitäten am EFQM-Modell und institutionalisierten mit dem TQM-Steuerkreis die permanente Arbeit an unseren Potentialen. Dann ging es systematisch weiter:





In der zweiten Jahreshälfte 1999 führten wir die Balanced Scorecard ein. Rudolf Neidl, mein Stellvertreter, konstruierte dazu ein umfassendes Indikatoren-System, in dem er die BSC-Logik mit den Aspekten und Gewichten des EFQM-Modells verschnitt. Im Sommer 2001 las ich Mikel Harry, Richard Schroeder: Six Sigma. Diese ausgefeilte Methode zur systematischen Verbesserung von Prozessen erschien mir als missing link in unserem Managementystem.

Im Herbst 2001 organisierte ich über einen Freund, der Geschäftsführer eines Unternehmens von General Electric war, ein Privatissimum zu Six Sigma mit dem GE-Master-Black Belt für Europa für die Führungskräfte der LGS. Noch im selben Jahr begannen wir, alle Führungskräfte des AMS OÖ in dieser Methode zu schulen.

Erfreulicher Weise übernahm die Bundesorganisation des AMS vieles: die Ausrichtung am EFQM-Modell - als die LGF von Oberösterreich, Kärnten und der Steiermark einen gemeinsamen Vorstoß dazu unternahmen - systematische Kundenbefragungen, die Prozessorganisation und 2006 die BSC. Mittlerweile sind Qualitätsorientierung und -techniken Allgemeingut im AMS. Viele tools werden in seinen Teilorganisationen durch andere Ansätze ergänzt, weiterentwickelt und verfeinert (14).

Das AMS wird zu einer anerkannten Institution

Die Geschichte des AMS seit 1994 ist eine Geschichte des Erfolgs. Im Benchmarking der Public Employment Services Europas hält das AMS nachhaltig einen Spitzenplatz. Das AMS kooperiert mit privaten Dienstleistern auf dem Arbeitsmarkt aus der Position des Marktführers und Auftraggebers.

Zu diesem Erfolg wesentlich beigetragen haben aus meiner Sicht a) die drittelparitätische Eigentümerstruktur unter Einbindung der Arbeitgeber und b) die Abkopplung des dezentral organisierten Managements von politischen Weisungen.

Erfolgsfaktor Drittelparität

Vor 1994 hatten die Arbeitgeber keine Möglichkeit, die Ziele und Methoden der Arbeitsmarktpolitik mitzugestalten und über den Einsatz der von ihnen mitfinanzierten Ressourcen mitzubestimmen. Bei Arbeitsmarktproblemen nahmen sie die AMV oft völlig zu Unrecht unter Beschuss. Seit 1986 verging kaum eine Woche ohne Angriff auf die "ineffiziente" AMV.

Mit der Einbindung der Arbeitgeber in die Eigentümerstruktur kam diese Front nach 1994 zur Ruhe.

Unternehmen werden über einen eigenen Geschäftsprozess serviciert und wie die Arbeitskräfte regelmäßig nach ihrer Zufriedenheit mit den Leistungen des AMS befragt. Das AMS hat unternehmensspezifische Angebote entwickelt und ausgebaut wie COME BACK, QfB und Implacement.

Die Mitwirkung der Unternehmensverbände in den Organen des AMS hat das Know-How dieser Verbände im Bereich der Arbeitsmarktpolitik verbessert und das Verständnis für die arbeitsmarktpolitischen Interessen und Anliegen der Arbeitnehmerorganisationen erhöht.

Die Drittelparität und ausgeklügelte Mehrheitserfordernisse bei bestimmten Beschlüssen zwingen die Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter in den Organen des AMS zur Kooperation. Die Ausrichtung ihrer Entscheidungen bleibt von unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen natürlich nicht unberührt. Zu einer Lähmung des AMS aber haben politische Krisen auf Bundesebene bisher nicht geführt.

Dieser durchaus bemerkenswerte Umstand ist nicht zuletzt dem dezentral organisierten Management des AMS zu verdanken. Eine zentral geführte Organisation wäre von politischen Wechselbädern oder Stillständen in der Bundespolitik auch in ihren regionalen Ausläufern stets unmittelbar betroffen.

Erfolgsfaktor Dezentralisierung

Die Eigentümer des AMS wirken auf die AMS-Manager nicht per Weisung, sondern über Richtlinien und Ziele ein, die im Verwaltungsrat verhandelt und beschlossen werden. Das bewahrt den Apparat des AMS davor, jede tagespolitische Zuckung mitvollziehen zu müssen. Der Vorstand konzipiert diese Richtlinien und Ziele in vermittelnder Funktion und in Rückkopplung mit den Landesorganisationen (15).

Das Management gewinnt dadurch Spielraum für kontinuierliche Arbeit. Ein allein verantwortlicher, zweiköpfiger Vorstand mit "Durchgriffsrecht" wäre mit Sicherheit öfter und stärker politischen Pressionen ausgesetzt als der Vorstand im Verbund mit neun eigenverantwortlichen Landesgeschäftsführern (16). Die Performance des Unternehmens wäre durch häufige, hin und her schwankende Weisungen oder durch ausstehende Entscheidungen der Zentrale enorm beeinträchtigt.

Der Effektivität, Effizienz und Qualität des Unternehmens hat die dezentralisierte Entscheidungsbefugnis im AMS nachweislich gedient. Freilich hat dieses föderalistische Element nach wie vor Gegner: Bequemer für jede Zentrale ist auf kurze Sicht ein "Durchgriffsrecht". Zum ersten, fehlgeschlagenen Versuch einer solchen Re-Zentralisierung habe ich mich in den Jahren 2000 und 2001 ausführlich geäußert, vgl. dazu AMS GmbH / Notiz 6 - 24. 11. 2001.

Wie lange das AMS sich in der kreativen Labilität zwischen zentraler Koordination und regionalen Freiräumen erhalten und entwickeln kann ist ungewiss. Dieser Zeitraum wird durch jede Entscheidung des Managements und der Eigentümer verkürzt oder verlängert. Fortschritt verläuft jedenfalls über Unterschiede und Widersprüche, nicht über Uniformität.

Den Zentralismus der alten AMV hatte ich seit den siebziger Jahren als Effektivitäts- und Effizienzbremse erfahren. Erst 1991 gelang es mir, mit Christoph Leitl, damals Wirtschaftslandesrat in Oberösterreich, ein regionales arbeitsmarktpolitisches Forum ins Leben zu rufen, das arbeitsfähig und wirksam war: das "Forum Aktive Arbeitsmarktpolitik" (17).

Die Reform der AMV vorwegnehmend diskutierten wir in diesem Forum mit Vertretern der Sozialpartner die Herausforderungen des regionalen Arbeitsmarktes. Auf Basis gemeinsamer Analysen starteten wir eine Reihe von arbeitsmarktbezogenen Initiativen und Projekten. Jahr für Jahr wurde diese Kooperation enger, durch Beiziehung weiterer Akteure vielfältiger und der finanzielle Beitrag des Landes zu arbeitsmarktbezogenen Projekten höher.

Das Land Oberösterreich kofinanziert seit den neunziger Jahren eine Reihe von arbeitsmarktpolitischen Angeboten des AMS OÖ wie etwa Arbeitsstiftungen. Die nachhaltige finanzielle und politische Unterstützung des AMS OÖ durch das Land hat die Wirksamkeit solcher Angebote in Oberösterreich verstärkt und ihre Akzeptanz in der Öffentlichkeit erhöht.

Die Kooperation des AMS OÖ mit dem Land Oberösterreich hat dazu beigetragen, dass Oberösterreichs Arbeitsmarkt sich deutlich positiver als im Bund entwickelt hat, dass Oberösterreich im Jahre 2000 erstmals nach 1945 die niedrigste Arbeitslosenquote aller Bundesländer erzielt und diese Position 2009 zum zehnten Mal in Folge gehalten hat.

Bisher hat diese Kooperation personelle Veränderungen überdauert und wird dies hoffentlich weiter tun.



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Perspektiven

Es gibt im ganzen Weltkreis nichts Beständiges. Alles ist im Fluß und jedes Bild wird gestaltet, während es vorübergeht

läßt Ovid in seinen "Metamorphosen" den Philosophen Pythagoras sagen.

Eine lebendige Organisation ist nie "perfekt". Sie durchläuft lediglich Phasen mit mehr oder weniger raschen, mehr oder weniger tiefen Veränderungen in der laufenden Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Ist diese in einem beschleunigten Umbruch wie zurzeit, erhöht sich auch der Veränderungsdruck im AMS.

Ein kluges, kundenorientiertes channel-management in Verbindung mit neuen Organisationsformen im Kundendienst ("adhocracy" (18)) zum Beispiel sind mögliche Antworten auf aktuelle und erwartete Herausforderungen, denen das AMS sich ohne Funktions- und Bedeutungsverlust nicht entziehen kann.

Auch die politischen und gesellschaftlichen Mächte wirken unaufhörlich auf das AMS ein. Es hängt von der Wachsamkeit, der Kompetenz und der Courage seiner Führungskräfte und Mitarbeiter ab, ob das AMS dabei handlungsfähig bleibt, ob seine integrierende Rolle gestärkt oder geschwächt oder ob das AMS einseitig instrumentalisiert wird.

Klare Ziele, Entwicklung und Beherrschung geeigneter Instrumente, Entschlossenheit und Ausdauer sind erforderlich, um den unberechenbaren Fluß der Dinge erfolgreich zu befahren. Ich wünsche den Führungskräften und Mitarbeitern des AMS dazu alles Gute.




TEIL 2

Antworten

auf Fragen und Vorwürfe, die verschiedene Personen jüngst oder im Lauf der Zeit so oder so ähnlich an mich adressiert haben


Zwischen den Fronten

J (Journalisten): Sie haben zu unternehmerfreundlich agiert, hört man aus Arbeiterkammer und ÖGB

O: Auch der gegenteilige Vorwurf ist mir vertraut. Das AMS arbeitet im Kreuzfeuer der Interessen. Das ist spannend, aber verletzungsanfällig.

J: Was genau haben Arbeiterkammer- und ÖGB-Vertreter an Ihrer Geschäftsführung kritisiert?

O: Verständnisprobleme hatte ich fallweise mit Funktionären, die den Wandel des Arbeitsmarktes nur als Zumutung wahrnehmen, Abschottungs- und Versorgungsangebote für Arbeitsmarktpolitik halten oder in Sanktionen gegenüber Arbeitsunwilligen nicht den Schutz des Solidaritätsprinzips, sondern Schikanen gegen "systemkritische" Arbeitskräfte sehen. Reizthemen waren Vorruhestandslösungen, Zeitarbeit, Schulungen...

J: Der Vorruhestand ist aber nicht nur bei Gewerkschaftern beliebt.

O: Gewiss. In den achtziger Jahren haben Gewerkschafter und Manager aus Verstaatlichten Betrieben die Verkürzung der Lebensarbeitszeit als Königsidee bei strukturbedingtem Personalabbau entdeckt. Die privaten Arbeitgeber haben trotz gelegentlicher Kritik aus ihren Organisationen diese Praxis rasch übernommen: auch in ihrem Fall waren die Lasten der Finanzierung abschiebbar. Die Sozialpartner haben so eine schwer umkehrbare Erwartungshaltung in der Bevölkerung erzeugt. Der Vorruhestand ist zur kollektiven Verdrängung von Strukturproblemen avanciert. In der Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Gesundheitspolitik hat diese Strategie Versäumnisse provoziert. Berufliche Weiterbildung jenseits der 40 etwa ist nach wie vor ein Minderheitenprogramm.

Die Rechnung für den flächendeckend praktizierten, zum Teil weit vor dem sechzigsten Lebensjahr vorgezogenen Ruhestand bezahlen nun die arbeitenden Menschen der nächsten Generation: über höhere Abgaben, verlängerte Lebensarbeitszeit und schlechtere Pensionsleistungen. Gemildert wird diese Belastung nur kurzfristig und nur innerhalb stabiler Familien durch private, generationsübergreifende Zuwendungen. Den vorgezogenen Ruhestand bei steigender Lebenserwartung habe ich daher für unsolidarisch gehalten. Die Manie, Probleme auf dem Arbeitsmarkt primär durch Transferleistungen zu lösen, kann auf Dauer nicht funktionieren.

Einige Freundschaften mit AK- und ÖGB-Mitarbeitern sind trotz dieser und anderer Reibezonen über Jahrzehnte unerschüttert geblieben. Darauf sehe ich gern zurück, ebenso auf viele Kooperationen mit realitätsbezogenen Betriebsräten. Dankbar bin ich Fritz Freyschlag, dem langjährigen Präsidenten der Arbeiterkammer Oberösterreich. Er hat mich bei der Abschaffung der Krisenregionsregelung, bei der Popularisierung der Arbeitsstiftung und bei der Zivilisierung der Zeitarbeit gegen den Widerstand anderer Funktionäre unterstützt.

J: Hatten Sie weniger Konflikte mit Arbeitgebervertretern?

O: Vor der Ausgliederung des AMS hatte ich primär Konflikte mit der Arbeitgeberseite. Unternehmer und Unternehmervertreter begegneten der alten AMV häufig mit Mißtrauen, Kritik und Ablehnung. Sie urteilten oft völlig uneinsichtig über Ziele und Aktivitäten der Arbeitsmarktpolitik.

Als typisch für das gereizte Klima zwischen AMV und Arbeitgebern ist mir der Verlauf eines Meetings mit Jungunternehmern in Erinnerung. Es war eine groß aufgezogene Veranstaltung in der Stadthalle Wels Ende der achtziger Jahre. Ich war zu einem Statement über die Angebote der AMV geladen. Die Diskussion dazu beschränkte sich auf Wortgefechte zur Arbeitsunwilligkeit von Arbeitslosen und zur Unfähigkeit des Arbeitsamtes anhand von Anekdoten. Da ich mir in keiner Diskussion die Schneid nehmen lasse, hat mir das durchaus Spaß gemacht. Nützlich für die Arbeitsmarktpolitik aber war dieses feindselige Verhältnis nicht.

Nach 1994 hat sich die Haltung der Arbeitgeber geändert: die Mitwirkung von Unternehmern und Unternehmervertretern in den Regionalbeiräten, in den Landesdirektorien und im Verwaltungsrat hat die Wahrnehmung der Arbeitsmarktpolitik in der Unternehmerschaft differenziert und der aktiven Arbeitsmarktpolitik Auftrieb gegeben. Die Einbindung der Arbeitgeberorganisationen in den Apparat des AMS ist eine gesellschaftspolitische Errungenschaft. Sie dient dem Interessenausgleich auf dem Arbeitsmarkt.

Politische Position

Sp (ein Spitzenpolitiker): Du warst für mich immer eine Enttäuschung.

O: ?

Sp: Weil du nicht in die Politik gegangen bist.

O: Mein Verständnis von Politik hat sich auf Parteipolitik nie beschränkt. An der Funktionsfähigkeit einer Institution wie dem AMS zu arbeiten, hat eine gesellschaftspolitische Dimension. Fritz Freyschlag hat mir einmal verärgert und amüsiert zugleich vorgehalten: "Du betonst, dass du kein Politiker bist und agierst fortwährend politisch". Das hat er fein beobachtet.

F (Freunde): Du bist auch für andere Funktionen im Gespräch gewesen. Warum ist daraus nichts geworden?

O: Ich galt 1994 (18 a), 1998 und im Winter 2004 manchen Entscheidungsträgern als Option für den Vorstand. In die Öffentlichkeit ist das nur 1998 gedrungen, als Lore Hostasch, damals Sozialministerin, diese Lösung gewünscht hat. 1995 brachte mich der Arbeiterbetriebsrat der VÖEST als Sozialminister ins Gespräch. Der abgehende Minister Hesoun selbst soll diesen Vorstoß vereitelt haben. Die Wertschätzung von Personen, die mich gern auch in anderen Funktionen gesehen hätten, hat mich gefreut. Für ein Avancement habe ich jedoch nie gerudert. Ich war daher weder überrascht noch enttäuscht, dass es bei Sondierungen geblieben ist. Nicht enttäuscht, weil ich gern Landesgeschäftsführer war. Nicht überrascht, weil ich aus manchen interessen- oder parteipolitischen Positionen heraus stets skeptisch bis ablehnend beurteilt worden bin. Um diese Kritiker habe ich mich nie bemüht.

F: Das klingt arrogant...

O: ...ist aber nur Ausdruck einer Selbstbeschränkung. Die Funktion des Landesgeschäftsführers war eine Funktion nach meinem Geschmack. Ich war nicht scharf darauf, unter allen Umständen und mit allen Mitteln "höher" zu steigen. Das hätte Verhaltensweisen eingeschlossen, die mir nicht liegen.

F: Was meinst du damit?

O: Na, immer die richtigen Leute umschwänzeln, eifrig an ihren Aktionen teilnehmen, schmeicheln statt widersprechen, konspirieren, intrigieren, Hackel werfen, Fallen stellen etc. Manche nennen so ein Verhalten "netzwerken".

F: Könnte es sein, dass du einfach zu eigensinnig bist?

O: Aus der Perspektive von Menschen mit flexiblerem Charakter - ja.

F: Was hat deine Kritiker gegen dich eingenommen?

O: Das mußt du meine Kritiker fragen. Ich hab´dazu nur Vermutungen.

F: Welche?

O: 1) Arbeitsmarktpolitik besteht aus einem beständigen Strom zahlreicher, selektiver Interventionen. Ihr Erfolg steht und fällt mit der Aufmerksamkeit, dem Einfallsreichtum, der Aktivität und Kooperation regionaler und lokaler Verantwortungsträger. Als Verfechter des Subsidiaritätsprinzips bin ich Zentralisten und Uniformisten oft in die Quere gekommen, ja, der "Sezession" verdächtigt worden.

2) Die Arbeitsmarktindikatoren einiger Bundesländer, darunter v. a. Oberösterreich, entwickelten sich nach der Ausgliederung des AMS sehr positiv, deutlich positiver als in Wien. Welchen Anteil an diesem Auseinanderklaffen der regionalen Indikatoren hatte das jeweilige Landes-AMS? Manche Verantwortliche in Wien machten sich darauf ihren eigenen Reim. Sie bezweifelten die Seriosität des AMS OÖ, etwa bei der konsequenten Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit. Sie schoben Oberösterreichs Erfolg als eine Kombination aus Tricks, Grausamkeiten und glücklichen Umständen ins Dubiose. In dieses Horn stießen immer wieder auch "linke" Bundespolitiker wie der NR-Abgeordnete Öllinger und einige Lohnschreiber.

Die Weichenstellung zu besserer Performance, die wir 2004 im AMS Wien mit unserem Projekt 961+ ausgelöst haben, erfolgte mit zehn Jahren Verspätung. Der Vorschlag kam vom oberösterreichischen Betriebsrat. Ich hatte dazu wenig Lust. Unerwünschte Hilfe liegt mir nicht. Nur wenige Funktionsträger in Wien haben das Projekt begrüßt. Überwiegend schlug uns Ablehnung, ja, Hass entgegen. Das hat uns nicht überrascht. Völlig unerwartet aber war ein Angriff aus der Arbeiterkammer Oberösterreich, also gewissermaßen im Rücken unseres Projekts:

Funktionsträger der AK OÖ attackierten das AMS OÖ intern und öffentlich, mit Langzeitarbeitslosen nicht einfühlsam genug umzugehen und rückten Sanktionen wegen Arbeitsunwilligkeit generell in Acht und Bann. Journalisten haben mir mitgeteilt, dass Interventionen aus Wien in der Arbeiterkammer Oberösterreich den Anstoß dazu gegeben hätten. Wie immer: diese pauschale Kritik entsprach so gar nicht den Wahrnehmungen unserer Beraterinnen und Berater zum Thema Langzeitarbeitslosigkeit und Arbeitsunwilligkeit. Viele waren darüber befremdet.

In der Tat waren im Umgang mit Arbeitsunwilligkeit im Projekt 961+ Konflikte zwischen Mitgliedern der oberösterreichischen taskforce und Wiener Funktionsträgern aufgebrochen. Den Oberösterreichern war unverständlich, dass eklantant unter Beweis gestellte Arbeitsunwilligkeit in Wien weitgehend folgenlos für den Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung war. Wiener Funktionsträger schalteten den Vorstand als Schiedsrichter ein. Unsere Rechtsauffassung wurde bestätigt.

In den folgenden Jahren stiegen die Sanktionen in Wien aufgrund konsequenterer Vermittlungsaktivität geradezu atemberaubend an (19). Wien wurde gelobt, weil es Langzeitarbeitslosigkeit erfolgreich reduzierte. Die Verärgerung mancher Interessenvertreter über diesen Kulturwandel aber war offenbar groß. Auszubaden hatte dies das AMS OÖ.

3) An parteipolitischen Aktionen habe ich mich nicht beteiligt. Für Rechtgläubige aller Konfessionen bin ich ein maverick.

Aufgrund solcher Einstellungsunterschiede und Vorfälle war das Verhältnis einiger Entscheidungsträger und Funktionäre zu mir von Nähe und Herzlichkeit nicht geprägt. Dasselbe gilt vice versa.

F: Hast du nie bedauert, in Oberösterreich geblieben zu sein?

O: Nein. Ich habe in Wien gern studiert, aber gelebt und gearbeitet habe ich vorher und nachher lieber in Oberösterreich. Es ist ein vielgestaltiges, schönes Land. Das vorherrschende polit-ökonomische Klima ist direkt, pragmatisch, weltoffen und regionalbewußt zugleich. Ich mag den zupackenden Upper Austrian Spirit. Er ist der weltmarktgehärteten oberösterreichischen Industrie zu danken, hat aber auch Wurzeln in der Zeit, in der das Land ob der Enns erzprotestantisch und seine Bauern die aufsässigsten Europas waren.

Das Wiener Parkett mit seiner Vielfalt an politischen Zirkeln erfordert mehr Akrobatik, um zu Ergebnissen zu kommen. Wer Spass hat an langwierigen, taktischen Prozessen, in denen das Prestige der Beteiligten zuweilen zum kardinalen Moment anschwillt, wird sich in Wien wohler fühlen.

F: Landesgeschäftsführer war dein Traumjob?

O: Diese Funktion war mir nicht immer, aber meist ein Vergnügen. Traumjob? Der Bub, der den Lederstrumpf verschlungen hat, wollte Waldläufer werden.

L (enttäuschte Freunde): Du hast dich vom hard-core-Linken zum Neoliberalen gewandelt.

O: Aber. Richtig ist: 1973 habe ich mich vom politischen Erlösungskram befreit. Es gibt kein erkennbares Ziel der Geschichte, kein "letztes Gefecht". Entlang ihrer Interessen geraten die Menschen unentwegt in Konflikte. Kein Interesse rechtfertigt den Einsatz aller Mittel. Seit 1973 habe ich mein Welt- und Menschenbild ernüchtert, mich aus der Jakobiner-Mentalität gelöst und bemüht, nicht zynisch zu werden. Angeregt durch Poppers "Offene Gesellschaft" habe ich mich konzentriert auf die Stärkung einer Institution, die dem Interessenausgleich dient. Das ist "neoliberal"? Mit diesem Vorwurf lebe ich unbeschwert.

L: Du hast die sozialistische Vision aufgegeben.

O: Die Illusion.

L: Visionäre Politik ist illusionistisch?

O: Wenn Visionen von irrealen Heilsbotschaften nicht unterscheidbar sind, ja. Charismatiker und ihre entzückten Adepten sind für das Gemeinwesen oft gefährlicher als abgebrühte Zyniker. Nur solange Pragmatiker sich am Steuer abwechseln ist Politik in guten Händen.

L: Du hast dich mit dem Kapitalismus arrangiert.

O: Weil ich kein rotes Tüchlein schwenke? Geh. Sag mir lieber: wie tauglich waren die bisher erprobten Alternativen? Der Faschismus ist an der Brutalität zerschellt, die er entfesselt hat. Die Kommunisten haben vor den anarchischen Elementen der menschlichen Natur kapituliert. Das Ende des realen Sozialismus...

L: Die "anarchischen Elemente der menschlichen Natur"? Du verfällst dem Biologismus.

O: Wer die Intensität persönlicher Interessen und die bescheidene Reichweite von Solidarität unter den Menschen täglich erfährt, ist Biologist? Meinetwegen. Das Ende des realen Sozialismus wäre jedenfalls weniger friedlich verlaufen, hätten die Kommunisten an der Illusion der unendlichen Disziplinierbarkeit der Menschen festgehalten. Hast du aus dem Fiasko ihres Unternehmens nichts gelernt? Warum wohl ziehen die meisten Menschen die Chancen und Risken einer Wettbewerbsgesellschaft den Anstrengungen und Zwängen eines egalitären Systems vor?

L: Eine egalitäre Gesellschaft ist "anstrengend"?

O: Anstrengend bis zur Überforderung. Unter der "Diktatur des Proletariats" sollten die Menschen ihre Gesellschaft zur perfekten Harmonie entwickeln und sich freudig in diesen Plan fügen. Trotz siebzigjähriger Experimentierdauer mit harten und weichen Phasen und trotz des Angebots regionaler Varianten war die Mehrheit der Menschen dafür nirgends zu begeistern.

Die "Diktatur des Proletariats" hat sich vielmehr als Brutkasten für eine neue, privilegierte Klasse entpuppt. Bei Wikipedia kannst du über die private Vorsorge schon des ersten Staatsoberhauptes der Sowjetunion, Jakow Michailowitsch Swerdlow, nachlesen: 1935 öffnete NKWD-Chef Jagoda, im Zuge von Ermittlungen gegen dessen Bruder, Swerdlows Tresor. Über den Inhalt leitete er sofort eine Nachricht an Stalin weiter, denn er bestand aus 108.525 zaristischen Goldrubeln (etwa das vierfache Jahresgehalt eines zaristischen Ministers), 750.000 einfachen Rubeln und 705 Goldschmuckstücken, von denen viele mit Juwelen besetzt waren. Einige zaristische Blankopässe sowie sieben, auf den Namen einer „J.M.Sverdlowa" und auf andere Verwandte bereits ausgestellte Pässe befanden sich ebenfalls darin.

Konkurrenz begrenzt Privilegien und Korruption offenbar effektiver als die bestmögliche Selbstkontrolle einer allmächtigen Nomenklatura.

L: Der Kapitalismus ist jedenfalls menschenfeindlicher als die Idee des Sozialismus.

O: Bitte vergleiche Ideen mit Ideen und Realitäten mit Realitäten. Der reale Sozialismus hat im Vergleich zum realen Kapitalismus ökonomisch, politisch und ökologisch versagt. Der Kapitalismus ist ein entwicklungsfreudiges System. Seine Dynamik erzeugt Leid und Ungleichheit, ist aber immer noch eine Quelle neuer Lösungen (20). Originell und erprobenswert zum Beispiel finde ich eine aktuelle Idee des US-Ökonomen Paul Romer zur Eindämmung des Migrationsproblems im Zuge der Globalisierung: charter cities.

L: Du achtest zu sehr auf Äquidistanz. Das ist nicht gut für dich.

O: Aber gut für´s AMS. Politik, an der ich mich beteilige, beschäftigt sich mit der konstruktiven Behandlung von Widersprüchen. Aus unterschiedlichen Interessen brechen sie unentwegt auf. Die Konzentration auf diese Sisyphos-Arbeit (21) hält mich auf Distanz zur Tagespolitik, schließt mich aus bestimmten Zirkeln aus und begrenzt meine Karriere. Darüber weine ich meinen Polster nicht nass.

L: Dein freundschaftlicher Umgang mit N.N. (Industrieller) kommt nicht gut an.

O: Wenn das gegen mich spricht, nehme ich es verächtlich in Kauf.

L: Hast du am Kapitalismus gar nichts auszusetzen?

O: Aber ja. Das Kreditwesen hat im Vergleich zu Adam Smiths Zeiten ein abenteuerliches Ausmaß erreicht (22). Die Spekulanten und Funktionäre des Finanzkapitals sind übermächtig. Die Auswirkungen ihrer Aktionen überlagern die Effekte des klassischen Konflikts zwischen Kapital und Arbeit innerhalb der Realwirtschaft.

Das Problem: Die Macht des Finanzkapitals entspringt nicht der Verschwörung einiger Böser und fußt nicht allein auf der expansiven Dollar-Strategie der US-Imperiums. Sie wird gespeist aus den Bedürfnissen, den Sehnsüchten, den Illusionen, der Kurzsichtigkeit und der Maßlosigkeit sehr, sehr vieler Menschen. Die Krisen im Kapitalismus allein auf "die Banker" zu schieben ist populär. Ohne Millionen fahrlässiger Kreditnehmer, ohne Ökonomen und Politiker, die mit Berufung auf Keynes keine Hemmungen bei öffentlichen Ausgaben kennen wären die Banker nur harmlose Dienstleister.

Ob das redliche Bemühen mancher Politiker um globale, ordnungspolitische Eingriffe (etwa die Einführung der Tobin-Tax) erfolgreich sein wird, ist nicht abzusehen. Solange Spekulanten damit rechnen können, im Fall des Falles von der Regierung zu Lasten der Steuerzahler aufgefangen, statt in den Bankrott geschickt zu werden, werden sie ihr Verhalten nicht ändern: the banks still have an incentive to take on risk because they know the government will save them sagt Neil Barofsky, der special inspector general for the troubled asset relief program in den USA. Die staatliche Abfederung der Marktkräfte ist diesfalls kontraproduktiv.

Dennoch: Dieses unperfekte, dynamische System der Politischen Ökonomie hat sich in den letzten 150 Jahren als lernfähiger erwiesen als die geschlossenen totalitären Systeme, die im "Jahrhundert der Extreme" (Hobsbawm) als Alternativen propagiert und ausprobiert wurden. Unrecht, Brutalität und Krieg gibt es ja nicht, weil der Kapitalismus die Menschen schlecht macht. Sie sind schlecht bei jedem Wetter. Die Europäer sollten vielmehr gelernt haben, dass politische Konzepte umso fataler sind, je mehr Perfektion und Harmonie ihre Verkäufer verheißen.

Freilich: warum sollten Phantasten, Fanatiker, Opportunisten und Kriminelle ausgerechnet aus der Politik verschwinden? Bieten politische Kampfgemeinschaften solchen Leuten nicht mehr Spielraum als selektivere Handlungsfelder wie Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur? Gegen den Mißbrauch der Macht durch solche Figuren haben die Europäer die Gewaltenteilung erfunden und Institutionen entwickelt, die dem unmittelbaren Zugriff von Parteipolitikern entzogen sind. Es ist kein Zufall, dass die relative Unabhängigkeit solcher Einrichtungen stets den dümmsten und den übelsten Politikern mißfällt.

L: Wo also stehst du politisch?

O: Wenn du mir unbedingt ein Etikett anhängen willst, dann beschrifte es mit "liberal-sozial": so viel individuelle Freiheit wie möglich, so viele Konventionen wie nötig. Wer dieser Maxime folgt, wird sich politisch oft unbehaust fühlen. Das ist mir mittlerweile aber nicht unangenehmer als das Übernachten im Zelt statt im Hotel.

Persönliche Bilanz

K (Kollegen und externe Partner): Was hat dir Freude gemacht, worauf bist du stolz?

O: Freude hat mir gemacht, dass ich in meiner Funktion viele interessante und tüchtige Menschen in vielen Betrieben kennen gelernt habe. Dankbar bin ich für die gute, für die freundschaftliche Zusammenarbeit mit zum Teil langjährigen Weggefährten und -gefährtinnen. Stolz? Das AMS ist heute in einer Verfassung, die mir vorteilhafter erscheint als zur Zeit meines Eintritts. Ich hoffe, dazu beigetragen zu haben.

K: Deine größte Enttäuschung?

O: Besonderes enttäuschend im AMS war für mich kein einzelnes, kein herausgehobenes Ereignis. Ärger, Zorn oder Verachtung habe ich bei illoyalem Verhalten, bei Hinterhältigkeiten und Verleumdungen empfunden. Am frustrierendsten habe ich Situationen erlebt, in denen die Kommunikation versagt hat, also wenn ich mit jemandem lange gesprochen oder debattiert habe, ohne dass wir einander näher gekommen sind. Die deprimierendste zwischenmenschliche Erfahrung ist die Erfahrung wechselseitig unzugänglicher Welten.

Zuweilen habe ich Menschen mehr zugetraut als sie leisten konnten oder mehr zugemutet, als ihnen nach ihren eigenen Maßstäben zumutbar war. Solche Fehleinschätzungen und Mißverständnisse lassen sich nicht immer in wechselseitigem Verständnis auflösen. Das war enttäuschend für mich oder für andere oder für beide Seiten.

K: Was hättest du besser machen können?

O: Alles. Es gibt nichts, was man im Nachhinein gesehen nicht besser hätte machen können.

K: Das AMS beschäftigt viele Frauen, aber nur wenige weibliche Führungskräfte.

O: Wenige? Welches vergleichbare Unternehmen kann mit einem höheren Anteil an weiblichen Führungskräften aufwarten? Das AMS wird eines der ersten Unternehmen Österreichs sein, das eine 50-Prozent-Quote an Frauen in Führungsfunktionen erreichen wird.

K: Was wird sich dadurch ändern?

O: Die Quote der weiblichen Führungskräfte.

K: Sonst nichts?

O: Was sonst sollte sich ändern?

K: Bringen weibliche Führungskräfte nicht einen anderen, einen friedlicheren, einen sozialeren Charakter in die Lebens- und Arbeitswelt?

O: Gemischte Teams arbeiten kreativer und erfolgreicher zusammen als rein männliche oder weibliche Gruppen. Von finnischen und schwedischen Kolleginnen weiß ich, dass sie die weibliche Dominanz in ihren Organisationen durch die gezielte Aufnahme von Männern verringern wollen. Dass weibliche Führungskräfte männlichen moralisch oder sachlich generell überlegen sind oder umgekehrt habe ich bisher weder wahrgenommen, noch hat das eine mir bekannte Untersuchung ergeben. Es gibt tüchtige und weniger tüchtige Führungskräfte, ob Mann oder Frau ist gleichgültig.

K: Wie geht es weiter mit dem AMS?

O: Keine Ahnung. Das AMS ist eine ausgewogene, aber sehr labile Konstruktion. Eine Gesetzesänderung oder ein politischer Eingriff können es leicht aus dem Lot bringen. Positive Impulse aus der Tagespolitik sind rar.

K: Welche Impulse waren positiv?

O: Als positiv habe ich empfunden, dass im Jahre 2000 die Verantwortung für die Arbeitsmarktpolitik auf das Wirtschaftsministerium überging. Das AMS rückte damit in das Segment der Wirtschafts- und Standortpolitik, schärfte sein arbeitsmarktbezogenes Profil und verbesserte seinen Zugang zu Unternehmen. Nie zuvor war das AMS erfolgreicher.

K: War die Rückführung der Arbeitsmarktpolitik in das Sozialministerium also ein Rückschritt?

O: Der institutionelle Einfluss ist immer stärker als die beste persönliche Note, die ein Minister vorübergehend zu setzen imstande ist. Aus meiner Erfahrung ist das Risiko, dass andere Einrichtungen ihre Probleme ins AMS abschieben, bei der Zuordnung des AMS zum Sozialministerium größer als dies im Rahmen des Wirtschaftsministeriums möglich war.

Das Ansinnen dazu kann durchaus freundlich daherkommen, etwa unter der Losung "nur das AMS kann das und jenes erfolgreich umsetzen": das AMS als Mutter aller Problemlösungen, als eierlegende Wollmilchsau. Fehlt es Führungskräften im AMS in solchen Situationen an Aufmerksamkeit, an Mut und an Geschick zum Konflikt, wird das AMS Schaden leiden: das AMS wird wieder wie vor 1994 zum Bauchladen für Allerlei. Das kostet Kompetenz und Renommee in seiner Kernfunktion.

Das AMS freilich wird nicht mehr monokratisch geführt. Gegen Vereinnahmungs-Attacken lassen sich nun Verbündete finden: unter Miteigentümern oder wichtigen Partnern. Prekär wäre ein Überhandnehmen von Führungskräften, die sich durch Beflissenheit gegenüber tagespolitischen Ansinnen mehr auszeichnen als durch Kompetenz und Konsequenz im Dienst der Institution.

K: Welche Herausforderungen kommen deiner Einschätzung nach auf das AMS zu?

O: Die Krise 2008/2009 hat vielen Menschen bewußt gemacht, wie tiefgreifend die Weltwirtschaft sich verändert. Technologische Innovationen und eine Neuordnung der internationalen Arbeitsteilung löschen bestimmte Arbeitsplätze in manchen Regionen auf Dauer aus. Neue Beschäftigungschancen entstehen langsam oder anderswo. Macht und Einfluss des Westens nehmen ab, die ökonomische und politische Potenz anderer Regionen wächst.

Oberösterreichs exportorientierte Wirtschaft ist von diesen Umstellungen massiv betroffen. Daraus ergeben sich eine Menge Herausforderungen für eine Menge Leute. Arbeitsmarktpolitisch erscheint mir ein Umstand besonders besorglich: der Anteil gering Qualifizierter am Potential der Arbeitskräfte ist in Oberösterreich viel zu hoch. Dieser Umstand hat eine große Schnittmenge mit dem Migrationsproblem. Viele Politiker gehen damit immer noch überwiegend xenophobisch um.





Jobs für gering Qualifizierte sind weiter im Schwinden. Um ihre Beschäftigungschancen zu verbessern, müssen die Verantwortlichen in der Region für Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Standortpolitik intensiver als bisher kooperieren. Ohne gezielte Hilfestellungen vor dem 15. Lebensjahr kann das AMS den Anteil gering Qualifizierter nicht nachhaltig verringern: Viele Weichen, die zu einer prekären Position auf dem Arbeitsmarkt führen, werden vorher gestellt und können mit Mitteln des AMS nur mehr zum Teil umgestellt werden.


Kaum hatte Herakles einen Kopf der Hydra zerschlagen, so wuchsen anstatt des einen Kopfes zwei neue nach


Mindestens 90% der Oberösterreicher unter 25 Jahren sollen bis 2015 über eine abgeschlossene, beruflich verwertbare Ausbildung über die Pflichtschule hinaus verfügen - am commitment maßgeblicher regionaler Verantwortungsträger über dieses strategische Ziel habe ich nach Kräften mitgewirkt. Ich hoffe, dass diese Übereinkunft Aktivitäten ermöglicht und beschleunigt, die aus dem Ziel einen Tatbestand machen.

Das niederländische Public Employment Service hat in seiner vision for PES 2020 den Zweck solcher und ähnlicher Vorkehrungen treffend formuliert als ensuring a high level of employment security instead of job security.

Natürlich ist es damit nicht getan. Die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit einer Region erfordert vielfältige Aktivitäten, wie sie etwa im Strategischen Programm des Landes Oberösterreich gerade neu ausgerichtet werden.

Trotz aller Bemühungen um Koordination und Kooperation gilt: Verschiedene Akteure nehmen Herausforderungen verschieden wahr und antworten darauf entlang ihrer Interessen verschieden. Sie agieren auf unterschiedlichen Ebenen an unterschiedlichen Orten in unterschiedlichen Richtungen. Durch ihr Zusammen- und Gegenwirken entsteht meist etwas, was keiner vorhergesehen oder gewollt hat. Die Evolution ist auch in ihrem menschlichen Seitenzweig ein spannendes Spiel, das ins Unbekannte führt.

K: Freust du dich auf die Pension?

O: Ich freue mich auf einige Vorhaben. Solange ich gesund und munter bin, werde ich nicht an Langeweile leiden.

K: Was hast du vor?

O: Life is just what happens to you while you're busy making other plans (John Lennon). Aber wenn´s nach Plan geht: Ich werde als Großvater gebraucht. Das ist wunderbar und auf Sicht am wichtigsten. Für das Strategische Programm des Landes bin ich noch als einer der Themenfeldleiter aktiv (23). Im übrigen werde ich öfter in den Bergen sein, meine Jagdtage ausdehnen, regelmäßig Bogenschießen, mehr lesen, schreiben und schlicht meinen Garten bestellen (24). Einige Plätze auf dem Globus möchte ich noch kennenlernen oder wiedersehen. Im Rotary-Club werde ich weiter anregende Kontakte pflegen.

K: Was wirst du lesen? Was wirst du schreiben?

O: Lesen und wiederlesen werde ich neben ausgewählter fiction originelle Texte aus Philosophie und Politischer Ökonomie. Am spannendsten finde ich den evolutionsökonomischen Ansatz. Schreiben dient mir zur Aneignung und Festigung des Erfahrenen.

K: Das AMS wird dir nicht fehlen?

O: Ich war sehr gern dabei, nun lasse ich los: Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde (Salomo 3, Vers 1).

K: Würdest du noch einmal ins AMS eintreten?

O: Meinst du damit, ob ich dasselbe Leben noch einmal leben möchte? - Nein. Wozu? Das wäre langweilig.

K: Was schwebt dir vor? Für das nächste Leben, gewissermaßen?

O: Geh, das ist müßig.

K: Wenn du die Wahl hättest?

O: Das kommt auf die Alternativen an. Hätte ich die Wahl zwischen dem Leben eines Maikäfers oder dem eines Astronauten, würde ich den Astronauten wählen. Müßte ich wählen zwischen einer Wiedergeburt als Staatsdiener oder einer Existenz als Strauch in der Tundra - dann bitte diesmal den Strauch in der Tundra.

19. 02. 2010




"Wirbel um Ehrenamt: AMS-Chef Obrovski winkt ab"

Unter diesem Titel haben die Oberösterreichischen Nachrichten am 28. 5. 2010 über einen Epilog zu meiner Arbeit im AMS berichtet, den ich mir und dem AMS gern erspart hätte.

Zur Sache: Der derzeitige Landesrat für Wirtschaft, Viktor Sigl, bot mir anläßlich einer unserer letzten Treffen an, die ehrenamtliche Funktion eines Arbeitsmarktbeauftragten des Landes Oberösterreich zu übernehmen. In dieser Funktion sollte ich Projekte zu Zielen koordinieren, die das Land Oberösterreich gemeinsam mit dem AMS anstrebt. Konkret sprach er die institutionsübergreifenden Projekte zum Ziel Mindestens 90% der Oberösterreicher unter 25 Jahren sollen bis 2015 über eine abgeschlossene, beruflich verwertbare Ausbildung über die Pflichtschule hinaus verfügen an (siehe oben).

Es war das Angebot des wichtigsten strategischen Partners des AMS OÖ. Das Land Oberösterreich kofinanziert seit meiner Übereinkunft mit Christoph Leitl zu Beginn der neunziger Jahre auf völlig freiwilliger Basis die Arbeitsmarktpolitik des AMS OÖ in einem Ausmaß und in einer Kooperationsbereitschaft, wie dies weder selbstverständlich noch in anderen Regionen üblich ist.

Dennoch zögerte ich: Was war ein "Arbeitsmarktbeauftragter des Landes"? Ein Pensionist, der losgelöst von allen Funktionen und abgeschnitten von prä-medialen Informationsquellen arbeitsmarktpolitische Projekte koordiniert? Sollte ich in dieser Rolle nur von Erfahrungen zehren, die angesichts der dynamischen Entwicklung der Arbeitswelt rasch aufgebraucht sind? Sollte ich Informationen zum Arbeitsmarkt und zu Diskursen der Arbeitsmarktpolitik verkürzt, verspätet oder verstümmelt aus der Zeitung beziehen? Sollte ich mich bei der Koordination von Partnern aus Institutionen der Sozialpartnerschaft, aus operativen Einheiten des Landes, der Magistrate, der Schule, des AMS etc allein auf die Gutmütigkeit der beteiligten Personen stützen?

Ich bedankte mich für das ehrenhafte Angebot und lehnte ab: ohne Einbindung in ein Gremium, das den "Arbeitsmarktbeauftragten des Landes" offiziell am arbeitsmarktpolitischen Diskurs der Akteure teilhaben läßt und seinem Titel damit eine solide Basis gibt, hielt ich es für unprofessionell, ja zu sagen.

Darauf bot Viktor Sigl mir den (stimmlosen) Sitz des Landes Oberösterreich im Landesdirektorium des AMS OÖ an.

In dieser Konstellation war ich bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Ich besprach mich mit der künftigen Landesgeschäftsführerin, Birgit Gerstorfer. Hätte sie Vorbehalte geäußert, hätte ich die Funktion abgelehnt. Sie war jedoch der Meinung, dass ich als Arbeitsmarktbeauftragter im Landesdirektorium AMS und Land nützlich sein könnte.

Ich informierte die weiteren Mitglieder des Landesdirektoriums per Mail über diese Absicht und kontaktierte den Vorstand. Dieser hatte keine Einwände ("Eine Ehre für das AMS" - Zitat Herbert Buchinger).

Einen Tag später erfuhr ich jedoch aus excellenter Quelle, dass Herr BM Hundstorfer "fuchsteufelswild" über diesen Vorgang sei. Diese Erregung konnte ihre Quelle nur in Oberösterreich haben. Ich bat Landesrat Sigl daher, mit den Präsidenten der AK OOE und der WK OOE abzuklären, ob sie mit meinem Rollenwechsel einverstanden seien. Gegen den Willen der Sozialpartner würde ich sein Angebot nicht annehmen.

Landesrat Sigl tat dies und informierte mich telefonisch, dass der derzeitige Präsident der Arbeiterkammer, Dr. Kalliauer, meinen Verbleib im Landesdirektorium als Arbeitsmarktbeauftragter des Landes für "keine gute Idee" halte. Sigl hielt an seiner Absicht fest ("Die AK fragt mich ja auch nicht, ob es mir recht ist, wenn sie diese oder jene Person ins Direktorium delegiert") aber ich bat um Verständnis für meinen Verzicht: ich hatte und habe nicht die geringste Lust, mich in einer freiwilligen, ehrenamtlichen Funktion weiter durch das politische Unterholz dieses Landes zu schlagen.

Was die Herren Kalliauer und Hundstorfer im Detail aufgeregt hat, weiß ich nicht. Sie haben mit mir darüber nicht kommuniziert.

Haben sie geargwöhnt, dass ich "nicht loslassen" kann? Dass Eitelkeit mich leitet? Aber. Hätte ich dann meine Funktion aus einem lange geplanten, freien Entschluss vorzeitig zur Verfügung gestellt? Wenn ich an meinem Sessel klebte, wäre ich vor 2012 nicht aufgestanden.

Haben die Herren befürchtet, dass ich mich gegen das AMS in Stellung bringen lasse? Auch das wäre eine kuriose Unterstellung. Wer mich kennt weiß, dass ich dem AMS und meinem Heimatbundesland gleichermaßen behilflich gewesen wäre.

Oder hat ihnen lediglich mißfallen, dass ein "schwarzer" Landesrat einem pensionierten Geschäftsführer des AMS in arbeitsmarktbezogenen Fragen vertraut? Das scheint mir am wahrscheinlichsten.

Distanz zu parteilicher Vereinnahmung gehörte zu meinem Rollenverständnis. Der überparteilichen Akzeptanz des AMS OÖ hat dieses Verhalten gedient. Funktionäre mit Tunnelblick freilich hat es immer frustriert. Oft haben sie aggressiv reagiert.

Wer die Menschen kennt, ist darüber nicht verwundert. Einfach gestrickte Funktionäre halten die Interessen ihrer Gruppierung immer für die "richtigen" oder für die "besseren". Funktionäre, die darüber ein wenig reflektieren, wissen, dass dies eine banale Selbsttäuschung ist. Den Zynikern unter ihnen aber sind die Interessen anderer einfach egal. Sie gehen damit nur taktisch um. Beiden Typen, den intellektuell schlichten und den intelligenten, aber zynischen Funktionären, ist Loyalität zu einer öffentlichen Institution fremd (25). Umgekehrt: sie wollen dort Personen placieren, die allein ihnen gegenüber loyal sind.

Bei strukturellen Kooperationen wie im AMS besetzen Interessenspartner im gegenseitigen Mißtrauen die wichtigsten Funktionen daher gern doppelt: mit Personen, die sie jeweils für hundertprozentig funktionell in ihrem Interesse halten. Das Ausmaß ihres Vertrauens in einen "äquidistant" agierenden Funktionsträger ist beschränkt und schwankt oft wie in kommunizierenden Gefäßen - der Gewinn an Vertrauen bei einer Gruppierung geht einher mit dem Verlust an Vertrauen bei der anderen.

Ein konstruktives, belastbares Vertrauensverhältnis über Parteigrenzen hinweg gibt es nur zwischen starken Persönlichkeiten. Solche Konstellationen sind daher selten.

Mich mit diesen Realitäten geduldig auseinanderzusetzen war Teil meiner Funktion. In unbezahlter Arbeit tu´ ich das nicht mehr:

Die beteiligten Personen kennen mich und meine Arbeit so lange, dass sie klar "Ja" oder "Nein" sagen konnten. Sozialminister und AK-Präsident haben dem Vernehmen nach "Nein" gesagt und mir damit ihr Mißtrauen ausgesprochen.

Ich beschwere mich darüber nicht. Jedem steht frei, über meine langjährige Arbeit im und am AMS zu urteilen wie es ihm gefällt.

Unbeschwert konzentriere ich mich auf das Leben nach dem AMS.

06. 06. 2010



Anmerkungen

(1) Als zeitweiliges Mitglied einer selbsternannten revolutionären Avantgarde war ich in jungen Jahren fasziniert von der Idee eines perfekten Gemeinwesens und überzeugt, dass es zu seiner Errichtung einer selbstlosen Elite bedurfte.

Meine Erfahrung mit diesem Ansatz hat mich gegen anmaßende konstruktivistische Zugänge zu Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gründlich immunisiert.

(2) Diese Ausdrucksweise habe ich Mao Tse-Tung entlehnt: er hat sich - irritiert durch den Volksaufstand in Ungarn - am 27. Februar 1957 in einer Rede vor dem Staatsrat selbstkritisch mit der Frage "Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volke" beschäftigt. Dabei müssten die Kommunisten u. a. "von dem Wunsch nach Einheit ausgehen", dürften sich "auf administrative Weisungen allein nicht verlassen" und sollten dem Volk helfen "eine freie Diskussion über Probleme aller Art zu entfalten und sie nicht zu behindern."

Anmerkung für Leser, die diese Referenz befremdlich finden: Im Unterschied zur KPdSU ist es der KP Chinas gelungen, die Transformation des ökonomischen Systems selbst zu managen. Die Machthaber in China, die sich immer noch Kommunisten nennen, haben die "Widersprüche im Volk" jedenfalls geschickter behandelt als es Kommunisten anderswo je gelungen ist.

(3) Es hat Mitbewerber um diese Funktion gegeben, die aus übergeordneten Positionen kamen, bei einflußreichen Personalvertretern beliebter waren und eine "passendere" Vorgeschichte vorweisen konnten.

Die Veränderungen im Arbeitsamt Linz, die ich vorangetrieben hatte (siehe "Die Reform") waren ja keineswegs konfliktfrei abgelaufen: Perioden der Arbeitslosigkeit verkürzen, ineffiziente Vorgangsweisen beseitigen, die Organisation zielunterstützend umgestalten, Mitarbeitern Veränderungsbereitschaft abfordern... - all das war in- und ausserhalb des Apparats der AMV nicht auf unbeschränkte Begeisterung gestoßen.

Für meine Kritiker war und blieb meine Bestellung daher ein "Betriebsunfall", wie Erwin Buchinger, damals Personalvertreter im Landesarbeitsamt Oberösterreich, Jahre später formuliert hat.

(4) Obrovski, Roman: Sozialschmarotzer, Wirtschafts- und sozialpolitische Zeitschrift des ISW Heft 3/91, Linz 1991

(5) Nach dem Zerfall der Sowjetunion verlor die Kritik am kapitalistischen System Energie und Orientierung. Zurück blieb ein zum Teil kurioses Konglomerat aus ökologischen, religiösen und versprengten sozialistischen Attitüden in Gruppen, die sich als "alternativ" zum herrschenden Wirtschaftssystem definieren.

Exponenten dieses Konglomerats haben sich vor allem in der NGO-Szene etabliert.

Aufschwung hat die Kritik am Kapitalismus erst wieder in der jüngsten Weltwirtschaftskrise erhalten. Sie konzentriert sich allerdings auf "Fehlfunktionen" und bleibt vorderhand systemimmanent.

(6) Obrovski, Roman: Beschäftigungspolitik in einer veränderten Arbeitswelt, Wirtschafts- und sozialpolitische Zeitschrift des ISW Heft 2/95, Linz 1995

Eric Hobsbawm merkt zu den "Goldenen Jahren" zwischen 1950 und 1973 an:"Ein konservativer britischer Premierminister führte und gewann 1959 seinen Wahlkampf mit dem Slogan You´ve never had it so good - ein zweifellos zutreffendes Urteil. Erst in den unruhigen siebziger Jahren, nach dem Ende des großen Booms, als die traumatischen Achtziger bevorstanden, begannen die Experten und vor allem die Ökonomen zu erkennen, dass die ganze Welt und daher auch die Welt des fortgeschrittenen Kapitalismus eine außergewöhnliche, ja vielleicht sogar einzigartige Phase ihrer Geschichte durchlaufen hatte." ("Das Zeitalter der Extreme", dtv, S. 324)

(7) Sozialminister Alfred Dallinger war eine starke, konfliktfreudige Persönlichkeit. Ein Unternehmerschreck, war er dennoch weitgehend respektiert. Die sozialistischen Gewerkschaftsfunktionäre verweigerten ihm allerdings den Wunsch, Präsident des ÖGB zu werden.

In der kurzen Zeit der Kooperation hatte ich nur wenige persönliche Kontakte. Drei Reden habe ich für ihn geschrieben: zur Eröffnung des ersten, von mir gegründeten Berufsinfomationszentrums Österreichs in Linz und zur Eröffnung von zwei Veranstaltungen zu Handlungsansätzen der Arbeitsmarktpolitik, die ich in Oberösterreich organisiert hatte.

Sein jäher Tod war ein Schock für die AMV. Sie hatte noch kein Konzept gefunden, um aus der Defensive herauszukommen. Ob Dallinger dazu weiter nur auf die "Aktion 8000" und auf Sozialprojekte gesetzt hätte, bezweifle ich, aber dies läßt sich nur mutmaßen.

Dallinger ging mit Herausforderungen offensiv, autoritär und intelligent um. Sein Nachfolger Walter Geppert tappte freundlich und hilflos durch den politischen Diskurs.

(8) Obrovski, Roman: Arbeitsmarktservice und -intervention in Österreich, Wirtschafts- und sozialpolitische Zeitschrift des ISW Heft 3/90, Linz 1990

(9) Diese Machtdemonstration Gepperts fand ich geradezu rührend. Von allen Ministern, die während meiner aktiven Zeit verantwortlich für die Arbeitsmarktpolitik waren, war Geppert gewiss nicht der intellektuell schlichteste, aber weitaus der unentschlossenste.

(10) Gegen den Widerstand von Arbeitsmarktpolitikern aus Wien wurden Landesgeschäftsführer in "eigener Verantwortung" anstelle weisungsgebundener Funktionsträger an der Spitze der Landesorganisationen installiert (§ 16 AMSG). Mein entschiedenes Eintreten für dieses Herzstück der Reform - im Bündnis vor allem mit Beppo Sibitz - trug mir ihre Sympathien nicht ein. - Unter dem Titel der "AMS GesmbH" startete Wien zu Beginn des neuen Jahrtausends einen Re-Zentralisierungsversuch. Nach meiner Wahrnehmung scheiterte er primär am Widerstand der Länder, die mit den erstarkten Landesorganisationen des AMS intensiv kooperierten. Der letzte Anlauf gegen ein föderales Verständnis von Arbeitsmarktpolitik wird das nicht gewesen sein.

(11) Diese Aktion wurde mithilfe der ÖSB zur Initialzündung des nachmaligen QfB-Programms.

(12) Den Entwurf zum sogenannten "Langzeitarbeitslosengeld" hatte ich 1987 gegenüber dem damaligen Sektionschef als "schwachsinnig" bezeichnet, was an der Einführung dieser Leistung freilich nichts änderte. Später wurden Christoph Leitl, Fritz Freyschlag und ich gemeinsam bei Sozialminister Hesoun vorstellig, um die Abschaffung der Krisenregionsverordnung zu fordern. Erfolgreich. Meine anhaltende Kritik an verschiedenen Frühverrentungs- und Vorruhestandslösungen hat mir allerdings seit je mehr Gegner als Freunde eingebracht.

(13) Im September 1994 berichtete ich bei der ersten Klausur des Verwaltungsrates, des Vorstands und der designierten Landesgeschäftsführer in Maria Taferl von unserem Vorhaben, uns 1995 nach ISO 9000 zertifizieren zu lassen. Erwin Buchinger, damals Leiter in Salzburg, ließ sich als einziger Funktionsträger davon anregen. Das AMS Salzburg schloß 1996 mit seiner Zertifizierung zum AMS OÖ auf. Seither ritterte das AMS OÖ vorzüglich mit der Landesorganisation Salzburg um die Palme der besten Performance. - Mittlerweile hat Qualitätsmanagement bundesweit eine breite Basis im AMS gewonnen, das Niveau der Dienste ist in allen Landesorganisationen stark gestiegen, die Streuung der Qualität in maßgeblichen Aspekten der Geschäftstätigkeit hat sich verringert.

(14) Die Bundesorganisation mußte nach ihrer Gründung 1994 in ihrer Steuerungsfunktion erst Fuß fassen. Das dauerte. Die Landesorganisationen hatten einige Jahre beträchtlichen Spielraum für Innovationen in der Arbeitsmarktpolitik, bei der Gestaltung von Geschäftsprozessen und von Organisationsformen. Diesen Spielraum haben sie unterschiedlich genutzt: Entscheidungsentwöhnte Funktionsträger haben die zahlreichen, detaillierten Anweisungen aus der Ministeriumszeit vermißt und reagierten verhalten. Unternehmungslustige Mitarbeiter haben aufgeatmet und schlugen neue Wege ein. Die Performance der Landesorganisationen ging auseinander. Die Bundesorganisation war zunehmend um Konformität bemüht. Sie machte zur Norm (meist, aber nicht immer oder nur zögerlich, wie bei der BSC), was die erfolgreichsten Landesorganisationen praktizierten.

(15) Die Steuerung des AMS über Richtlinien hat deren Umfang anschwellen lassen. Das Richtliniendickicht engt den Spielraum der Landesorganisationen im Vergleich zu den Pionierjahren nach 1994 ein. Verfechter von uniformen Vorgangsweisen auf Bundesebene und entscheidungsscheue Funktionsträger in den Regionen kooperieren als Treiber einer schleichenden Bürokratisierung. Detailverliebte Richtlinien können zur Fessel für Innovationen werden. Ohne Gegenkraft mündet diese Tendenz in der Erstarrung der Organisation.

Dennoch: Im Verhältnis zur Weisung bleibt die Steuerung über Richtlinien ein Fortschritt. Richtlinien sind im Unterschied zu willkürlichen Weisungen einzelner Machtträger das Ergebnis oft zäher Verhandlungen. Das dient meist, leider nicht immer ihrer Qualität. Weisungen scheuen zuweilen das Licht. Richtlinien sind transparent. Und: findige Funktionsträger machen auch aus kleinen Lücken Spielräume der Kreativität.

(16) Weisungsfreiheit ist keine Garantie gegen den vorauseilenden Gehorsam willfähriger Funktionsträger. Weisungsgebundenheit schränkt Eigeninitiative und Eigenverantwortung jedoch von vornherein ein. Funktionen ohne Handlungsspielraum sind unattraktiv für Personen mit Gestaltungswillen. Das Übermaß an Unbeweglichkeit, Inkompetenz, Feigheit und Flohknackerei in langjährig monokratisch geführten Institutionen ist die Konsequenz einer negativen Selektion und der Erziehung zur Passivität: zu viele laue Führungskräfte und zu viele laue Mitarbeiter, die auf Weisungen warten, um (ja nicht zu viel) tätig zu werden. Ein guter Reiter zügelt lieber hin und wieder ein ungebärdiges Pferd, als einem faden Gaul fortwährend die Sporen zu geben.

(17) Mit Christoph Leitls Vorgänger war mir das nicht geglückt. Über Karl Grünner, den damaligen sozialdemokratischen Landeshauptmannstellvertreter, nahm ich Kontakt zu dem neuen, weltoffenen Wirtschafts-Landesrat auf. Er erkannte sofort das Potential der Arbeitsmarktpolitik für die Ziele und für das Image seines eigenen Ressorts. Unser Fokus auf die Schnittmenge unserer Interessen war, um ein Filmzitat zu gebrauchen, the beginning of a beautiful friendship. Diese ursprünglich persönliche Kooperation hat dazu beigetragen, dass die ÖVP in Oberösterreich sich mit der mißtrauisch beäugten Arbeitsmarktpolitik nach und nach befreundet und schließlich identifiziert hat. Arbeitsmarktpolitik wurde in Oberösterreich zu einer Angelegenheit mit breiter politischer Basis.

(18) Unter dem Arbeitstitel "adhocracy" experimentiert das AMS Linz seit dem Frühjahr 2009 mit der Aufhebung der Schnittstelle zwischen Service- und Beratungszone in zwei Geburtsmonaten auf freiwilliger Basis - mit zwischenzeitlich nachweisbaren Erfolgen in der Performance und in der Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit.

(18 a) Vor der ersten Ausschreibung der Vorstands- und Landesgeschäftsführerfunktionen hat BM Hesoun mich in sein Büro bestellt und mir in einem 6-Augen-Gespräch vorsorglich erklärt: Herbert Buchinger (er war Sekretär bei Hesoun und bei diesem Gespräch anwesend) sei wie "mein Sohn" und ich müsse verstehen, dass H. B. Vorsitzender des Vorstands würde. Meine Antwort auf diese wenig überraschende Mitteilung: Davon sei ich ausgegangen. Ich hätte nicht vor, mich für den Vorstand zu bewerben, sehr wohl aber für die Funktion des Landesgeschäftsführers: diese Funktion sei mir wichtig. - Gemeinsam mit Beppo Sibitz und mit Unterstützung von. H. B. bei Hesoun (das war gewiss ausschlaggebend, Hesoun hat H. B. vertraut), war es mir ja gelungen, eine zentrale Intention des im übrigen von mir geschätzten Sektionschefs Günther Steinbach zu durchkreuzen. Steinbach wollte im AMSG keine Landesgeschäftsführer, sondern weisungsgebundene Landesgeschäftsstellenleiter festschreiben. Dass er damit gescheitert war, hat er mir und Beppo als Illoyalität ausgelegt und lange Jahre vorgehalten. Für mich hingegen war mehr Selbständigkeit auf Landesebene DER maßgebliche Erfolg der Ausgliederung. Als LGF konnte ich mich in Oberösterreich endlich bewegen und weisungsfrei umsetzen, was mir wichtig war. Bis die Bundesgeschäftsstelle Tritt gefasst hatte (das dauerte Jahre) und begann, den Handlungsspielraum der Landesgeschäftsführer mit Richtlinien einzugrenzen, hatte ich viele meiner Ziele umgesetzt.

(19) In den Jahren 2001 bis 2004 hatte das AMS Wien bei höheren Zugängen in die Arbeitslosigkeit als in Oberösterreich insgesamt 10.609 Sanktionen wegen Arbeitsunwilligkeit verhängt. Im Bereich des AMS OÖ waren es im selben Zeitraum 14.017. Von 2005 bis 2009 sanken die Sanktionen in Oberösterreich auf 6.096. In Wien hingegen stiegen sie auf 22.047 an.

(20) Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind [Marx, Karl, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, in: MEW 13, S. 9.]

(21) Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen [Camus, Albert, Der Mythos von Sisyphos].

(22) Adam Smith hielt ein Verhältnis von 1 : 5 zwischen den Einlagen und dem Kreditvolumen einer Bank für vertretbar: So können laufend hunderttausend Pfund in Schuldscheinen des Bankiers kursieren, während in der Regel zwanzigtausend Pfund in Gold und Silber genügen mögen, um der Einlösungspflicht nachkommen zu können (Smith, Adam, der Wohlstand der Nationen 1975, Zweites Buch, Zweites Kapitel, Geld als ein Bestandteil der Kapitalanlagen). Smith warnte unter Hinweis auf das Mississippi-Projekt vor dem Exzess im Bankgewerbe. Appelle allein aber waren seit je fruchtlos: Der Ausgangspunkt der Krise waren die Investmentbanken, die ihren Verschuldungsgrad in den letzten Jahren enorm erhöht haben. Im Durchschnitt haben große Investmentbanken zuletzt für jeden Dollar oder Euro an Eigenkapital mit etwa 35 Dollar oder Euro an Fremdkapital agiert (Josef Zechner, Finanzwissenschafter, Wiener Zeitung, 22. Oktober 2008)

(23) Mittlerweile habe ich alle Funktionen zurückgelegt, die mit meiner Position als Landesgeschäftsführer verbunden waren. Angebote, Geschäftspartner des AMS als Konsulent zu beraten oder Kommentare für eine Tageszeitung zu verfassen habe ich dankend abgelehnt. Auf Einladung Christoph Leitls arbeite ich lediglich im Kuratorium des Instituts "Wirtschaftsstandort Oberösterreich" mit (August 2010).

(24) Arbeit verscheucht die drei schlimmsten Feinde von uns, die Langeweile, das Laster und den Mangel. Candide behielt diese Rede des Türken und bewegte sie in seinem Herzen... Gut gesagt! recht gut! sagte Candide, allein wir müssen unsern Garten bestellen [Voltaire, Candide oder Die beste aller Welten]. Mein Garten

(25) Das öffentliche Interesse hat kein natürliches Subjekt. Daher ist stets umstritten, worin es besteht. Niemand, der öffentliches Interesse für sein Verhalten in Anspruch nimmt, kann von seinen persönlichen Interessen völlig abstrahieren. Die Unterschiede im Bemühen, im öffentlichen Interesse zu handeln, sind unter politisch tätigen Menschen beträchtlich.




 
 
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