"Logabuam" |
01. 06. 2016 Dieser Text ist die schriftliche Fassung einer Rede, die ich am 28. 09. 2014 auf Einladung der Gemeinschaft des Lagers 65 in Linz gehalten habe. Ehemalige Lagerbewohner waren zu einer Gedenkveranstaltung am Friedhof St. Martin zusammengekommen. Als Obmann des Lagers 65 hatte mein Vater im Jahre 1953 für die gefallenen, ermordeten und auf der Flucht umgekommenen Donauschwaben ein Denkmal initiiert und auf dem Gelände des Lagers errichtet. Die Tafel mit der Inschrift war nach dem Abriss des Lagers erhalten geblieben und auf einem Gedenkstein in St. Martin angebracht worden. Gesprochen haben ferner Dr. Georg Wildmann, Michael Stertz, Alt-Bischof Dr. Maximilian Aichern und LH Dr. Josef Pühringer. Da ich kürzlich um eine Druckvorlage meines Beitrags gebeten wurde, stelle ich ihn auch an dieser Stelle zur Verfügung - ergänzt durch einige Illustrationen.
When I was young,
Bruno Walter hat mich eingeladen, einige Worte zu sagen, wie Kinder und Jugendliche im Lager 65 aufgewachsen sind. Erforscht habe ich das nicht - ich bitte um Verständnis, wenn ich dazu nur aus persönlicher Erfahrung sprechen kann. Meine Erfahrung ist überdies begrenzt durch die Altersgruppe, der ich angehöre. Damit meine ich die Jahrgänge etwa von 1944 bis 1948. Wer damals nur ein paar Jahre älter oder jünger war, hat auf das Lagerleben und auf die Zeit von 1950 bis 1960 vermutlich schon einen anders akzentuierten Blick. Vom Bauernhof ins Lager Meine Familie kommt aus Franztal. Die Einwohner dieser Siedlung in Semlin, benannt nach Kaiser Franz I. von Österreich, wurden im November 1944 vom Wehrmachtskommando aufgefordert, die Heimat, wie es hieß, vorübergehend zu verlassen. Sie flüchteten mit Fuhrwerken oder mit dem Zug und wurden allesamt zu ihrem Bestimmungsort nach Mondsee geleitet. Von dort haben sie sich nach dem Krieg allmählich in alle Welt zerstreut.
Meine Familie ist 1950 nach Linz ins Lager 65 gezogen. Anfangs lebten wir zu fünft in einem Zimmer der Baracke 7.
In Oberwang bei Mondsee hatte ich eine idyllische frühe Kindheit mit meinem Kinderfreund Hias verbracht, dem jüngeren Sohn des Ortbauern in Großenschwandt. Wir waren in einem Nebengebäude des Hofs untergebracht. Es lag am Rand des Dorfes an einem Bach, umgeben von Bäumen, Wiesen und Feldern.
Den Eintritt ins Lager habe ich weniger idyllisch erlebt:
Gleich am ersten Tag, so meine Erinnerung, musste ich in einer Bubenhorde um meinen Rangplatz raufen. Ältere Buben umstanden den Ringkampf und kommentierten das Geschehen. Ich erinnere mich, dass ich unterlegen war, dass der Sieger triumphierend auf meinem Brustkorb saß, seine Knie in meine Oberarme bohrte, mir die Handgelenke zu Boden drückte und "gibst auf, gibst auf?" keuchte, bis ich nach mehrmaligem vergeblichen Aufbäumen ein schmerzhaftes "Ja!" stöhnte.
Die Schar
Wir Buben haben uns meist im Freien bewegt, in den Baracken war wenig Platz. Einzeln waren wir selten unterwegs, meist in einer Schar. Wir durchstreiften die Wege und Winkel des Lagers, erforschten die Hänge des Hohlwegs von Niedernhart bis zur Wankmüllerhofstraße. Wir untersuchten Bombentrichter, Luftschutzkeller und den Müllabladeplatz. Wir haben nach Relikten des Krieges gesucht und immer wieder etwas gefunden: Patronenhülsen, Bajonette. In einem verschütteten Luftschutzkeller hinter einer Baracke habe ich einen Stahlhelm ausgebuddelt.
Von älteren Buben konnte man manch Interessantes lernen, etwa wie man aus einem möglichst langen, geraden Abschnitt des Bärenklaus ein Blasrohr verfertigt, eine Dolde mit noch grünen Holunderbeeren durch die Zähne zieht und mit diesem Mundvorrat ein Dauerfeuer auf den Gegner richtet.
Oder wie man eine Kröte oder einen Frosch mithilfe eines Strohhalms aufbläst, sodass das arme Tier, zurück ins Wasser geworfen, erst nach geraumer Zeit wieder untertauchen kann.
Oder wie man des Abends an das erleuchtete Fenster einer Baracke schleicht, behutsam einen Bindfaden mit einem Reißnagel am Fensterrahmen befestigt, den Faden spannt und aus mehreren Metern Entfernung mit Kolophonium reibt. Da beginnen Fensterscheiben im eingetrockneten Kitt zu vibrieren, zu brummen und zu klirren. Die Schreie der Bewohner haben uns entzückt. Wütend stürzten sie heraus, während wir schon außer Griffweite waren.
Unsere Vergnügungen waren einfach: im Winter legten wir auf den Siedlungsstraßen lange Eisbahnen an, um darauf zu rutschen oder mit aufgeschraubten Schlittschuhen darüber zu gleiten. Diese Bahnen mussten allerdings oft verlegt oder neu angelegt werden. Immer wieder sind ältere Frauen mit Kübel und Schaufel herbei geeilt und haben das Eis mithilfe ausgestreuter Asche außer Betrieb gesetzt.
Manche haben sich selbst Schlittschuhe gebastelt - zwei Brettchen, in der Längsrichtung links und rechts mit einem dicken Kupferdraht umwickelt. Einige sollen damit den ganzen Hohlweg hinunter geglitten sein.
Wenn wir im Sommer zum Froschbergbad aufbrachen, ersparten wir uns zuweilen den Umweg über die Bahnschranken von Untergaumberg. Im Bereich der Solo-Fabrik sind wir über die Schienen der Westbahn gesprintet, von aufgebrachten Bahnarbeitern beschimpft und verfolgt. Als das Hummelhofbad eröffnet wurde, hatte der Froschberg ausgedient. Manche konnten oder wollten sich den Eintritt allerdings nicht leisten und stiegen an der entlegensten Stelle des Bades mithilfe von Aufpassern vom Wald aus über den Zaun.
Als batteriebetriebene Plattenspieler aufkamen, tanzten an lauen Sommerabenden die Größeren in der Nähe des sogenannten Zerbombten Hauses am Rand des Hummelhofwaldes Rock n´Roll. Andere scharten sich um ein Kofferradio, um Das Lied der Prärie mit Conny Tex Hat zu hören. Er schloss stets mit demselben Gruß:
Fernsehen gab es bis tief in die fünfziger Jahre kaum und dann meist nur als kollektives Vergnügen. Die Spiele der Fußballweltmeisterschaft 1958 haben wir auf dem Apparat der Kantine Keks verfolgt. Der Stern des damals 17jährigen Peles ging auf und Brasilien schlug Schweden im Endspiel mit 5:2.
Zwei exotische Sternhaufen
Das Lager war ein gesellschaftlich ziemlich geschlossenes System, ein besonderer Sternhaufen in der oberösterreichischen Galaxie. Die Umgebung gab uns Staatenlosen ja durchaus das Gefühl, dass wir nicht, nicht ganz oder nur allmählich dazu gehörten. So richtig gestört hat uns Buben das damals nicht. Der Warnruf "Die Logabuam kummen!" hat uns amüsiert.
Ein völlig anderes, ebenfalls exotisches System in der oberösterreischischen Galaxie war der Bindermichl. Bis 1955 hatte er den Charakter einer aus den USA importierten Kleinstadt. In den Torbögen der Hitler-Bauten lehnten bewaffnete GIs mit einer Lucky Strike im Mundwinkel, die sie nur zur Hälfte rauchten. Die Militärpolizei, von weitem erkennbar an ihren weiß gebänderten Helmen, patrouillierte im Jeep oder auf einer olivfarbenen Harley Davidson mit Beiwagen.
Für die Amerikaner gab es eigene Geschäfte, eine Eisbar, einen gelben Schulbus mit Schülern, die ihre Bücher mit einem Riemen zusammenhielten. Auf den Grünflächen rauften rothaarige Buben um einen eiförmigen Ball oder droschen eine weiße, faustgroße Kugel mit einem Holzprügel durch die Gegend. In den Mistkübeln am Bindermichl wurden wir zuweilen fündig: weggeworfene, weil beschädigte Wasserpistolen oder Reste von Comic-Heften.
Und Autos gab es bei den Amerikanern! Lange, geradezu geflügelte Autos mit chromglänzenden Stoßstangen und bullaugenförmigen Lüftungslöchern seitlich an der Motorhaube. Am Bug glitzerte meist eine Figur, am Heck ein buntes Wappen. Ehrfürchtig berührten wir die wunderbaren Fahrzeuge und entzifferten ihre Namen: Buick, Pontiac, Cadillac, Ford, Chevrolet, D-o-d-g-e...
Zu Weihnachten funkelten am Bindermichl bunte Lichterketten. Am Ende der Ramsauer Straße leuchtete ein hoher Weihnachtsbaum, flankiert von einem riesigen, hell angestrahlten Santa Claus aus Sperrholz. Wenn zu den Feiertagen Post von Bekannten und Verwandten eintraf, die in die USA oder nach Canada ausgewandert waren, bewunderten wir den Glanz und Glitter der Glückwunschkarten.
Unsere Beziehung zu diesem ebenfalls exotischen System in der oberösterreichischen Galaxie war sprach- aber nicht bildlos. Der Vater eines meiner engeren Freunde war Hausmeister bei den Amerikanern. Er brachte Stöße von ausgelesenen Comics nach Hause und sehr interessante, illustrierte Warenhauskataloge. Wir waren fasziniert: Die Amerikaner konnten aus einer Fülle abgebildeter Gewehre und Pistolen wählen und sich diese mit der Post zustellen lassen.
Wie Superman durch die Luft flog, Züge mit bloßer Hand stoppte und offensichtliche Schurken mit einem "BAM!" unschädlich machte! Warum er fliegen konnte, wollte mir anfangs nicht in den Sinn. Dass er vom Planeten Krypton stammt und kein Erdenmensch war, erschloss sich mir erst nach und nach. Ursprünglich entwickelte ich die Theorie, dass seine Flugfähigkeit an seinem Umhang lag. Ich band mir ein Tischtuch um den Hals und sprang vom Schuppendach. - Danach habe ich diese Theorie verworfen.
Comics haben wir auch auf Deutsch in großer Menge verschlungen. Die Helden und Charaktere der "Schundhefte" waren vielfältig: Fulgor, Sigurd, Akim, Tarzan, Nick, der Weltraumfahrer, Prinz Eisenherz, Micky, die Ducks, Fix und Foxi und viele andere mehr. "Silber Wildwest- oder Kriminalromane" erfreuten sich ebenfalls großer Beliebtheit. Ich sammelte Rolf Torring- und Jörn Farrow-Hefte.
Wer der Buchgemeinschaft Donauland beitrat, konnte vierteljährlich ein seriöses Buch bestellen. Auch die Pfarrbücherei, die Leihbücherei der Pfarre St. Michael am Bindermichl oder das reichhaltige Amerikahaus boten "echte" Literatur. Karl Mays Gesammelte Werke, leidenschaftlich gelesen, zählten wir dazu. Gesammelt habe ich dazu auch Bilder, die damals einer Margarine beilagen.
Die Kirche und der Sportverein
Wie der amerikanische Bindermichl war auch das Lager ein nahezu autarkes System: wer einen Tischler brauchte oder einen Maler, Maurer, Zimmermann, Schlosser, Schuster, Schneider oder auch einen Musiklehrer, der musste dazu nur in die nächste oder übernächste Baracke gehen und handelseins werden.
Es gab zwei Geschäfte, einen Friseur, einen Uhrmacher, einen Fotografen, zwei Kantinen und einen Tanzsaal, in dem es Theateraufführungen, Konzerte, Bälle, landsmannschaftliche Veranstaltungen und zuweilen Filmvorführungen gab. Ich erinnere mich an Stummfilme mit Charly Chaplin und den Keystone Kops.
Auch eine eigene Schule gab es und den Kindergarten, geführt von Tante Käthe.
Unser Sternsystem hatte zwei Gravitationszentren: die Kirche und den Sportverein. Um diese Zentren bewegte sich ein großer Teil unseres Lebens.
Die kirchlichen Feste gliederten das Jahr und wurden unter großer Anteilnahme gefeiert, wie etwa die prächtige Fronleichnamsprozession. Weiß gekleidete Mädchen streuten aus ihren Körbchen Tausende gezupfte Blütenblätter vor den Baldachin, unter dem Pfarrer Fischer mit der erhobenen Monstranz die Prozession zu den reich geschmückten Altären anführte.
Nahezu alle katholischen Buben waren zumindest zeitweise Ministranten. In den Heimstunden mit Pfarrer Fischer lernten wir Zaubersprüche auswendig, mit denen wir in der Messe die Zaubersprüche des Pfarrers zu beantworten hatten: Ad Deum qui laetificat iuventutem meam. Natürlich hat Pfarrer Fischer uns erklärt, was das bedeutet, aber ich vermute, nicht alle wussten immer genau, was sie da sagten. Wichtig war, dass man auch die längeren Sprüche laut, fehlerlos und ohne Hänger sagen konnte.
In den Heimstunden wurde viel gesungen, keineswegs nur Kirchenlieder. Wir schmetterten Hoch auf dem gelben Wagen, Wenn die bunten Fahnen wehen und viele andere damals noch populären Lieder. Pfarrer Fischer spielte dazu auf dem Harmonium und sang kräftig mit. Gern hat er Auf der schwäbsche Eisenbahne angestimmt - ihr alle kennt dieses Lied vom Bauern, der seine Ziege mit einem Seil um den Hals an den letzten Waggon bindet, bei der Ankunft nur mehr den Kopf des Tieres vorfindet und wütend den Kondukteur beschuldigt, dass der Zug zu schnell gefahren sei.
Wenn Pfarrer Fischer uns aus dem Pflichtprogramm entließ, spielten wir Halma, Dame oder Mühle oder setzten uns mit einem Buch aus der Pfarrbücherei in eine Ecke.
Für Ministranten gab es Dienste mit mehr oder weniger Prestige - die Klingel, das Einschenken von Wein und Wasser, die Lesung, das Rauchfass... Auch das Läuten der Kirchenglocke war nicht jedem gestattet. Die Glocke hing in einem Turm, der vom Vorhaus des Pfarrheims durch eine Tür zugänglich war. Manche öffneten die Tür und sprangen in den Schacht des Turms, um zu läuten, andere blieben unter dem Türstock stehen und zogen das Seil schräg daran vorbei. Als ich mit dieser Methode einmal läutete, rumpelte es im Turm und die Glocke fiel herunter. Die Aufhängung war morsch geworden.
Als ich Oberministrant wurde, assistierte ich Pfarrer Fischer früh am Morgen bei seiner täglichen Messe. Dafür erhielt ich pro Tag 50 Groschen, die ich - zusammengespart und ergänzt durch Taschengeld - am Sonntag vormittag nach der Frühmesse im Johann-Strauß-Kino am Spallerhof oder im Phönix-Kino bei Filmen wie Der Graf von Monte Christo, Im Zeichen des Zorro oder Der gebrochene Pfeil verprasste.
Wer nicht im Kino war, dem wurde am nächsten Tag auf dem Schulweg der Film erzählt und zwar so genau, dass - wenn er den Film später doch einmal sah - er immer schon wusste, was als nächstes passieren wird.
Zuweilen stieß ich bei diesen Kinobesuchen auf Freunde, die die Sonntags-Messe geschwänzt hatten. In Stichworten musste ich ihnen auf dem Heimweg erzählen, was der Pfarrer gepredigt hatte, damit sie misstrauischen Fragen beim Mittagessen standhalten konnten.
Da mein Vater Lagerobmann und zeitweise Obmann des Sportvereins war, hatten wir hin und wieder hohe Gäste. Bischof Zauner hat mehrmals nach seiner Visite mit Pfarrer Fischer bei uns gegessen und von seinen Abenteuern mit dem Motorrad erzählt. Pfarrer Fischer pflegte vor dem Essen ein Handtuch anzufordern, steckte es hinter sein Kollar und erläuterte anderen Gästen diese perfekte Serviette stets mit denselben Worten: "Die Leute werden staunen und lachen, aber sie gewöhnen sich daran."
Ein ander Mal waren nach einer Fahnenweihe für den Sportverein Edelweiß die Fahnenpatin, ihr Gatte und ihr Vater bei uns zu Gast. Es handelte sich um die junge Frau Schwarz, ihren Mann und Herrn Engel, den Gründer der Firma Engel in Schwertberg. Dabei ist es zu einer heftigen Diskussion zwischen Herrn Engel und einem anderen Gast über den Krieg, seine Ursachen und Folgen gekommen. Mein Vater musste schlichtend eingreifen.
Mit dieser Fahnenweihe bin ich bei unserem Sportverein, bei Union Edelweiß angelangt.
Der Sportplatz war neben der Kirche der zweite zentrale Treffpunkt der Lagergemeinde.
Mit heutigen Anlagen hatte er nur entfernte Ähnlichkeit. Es gab weder einen Zaun, noch einen gepflegten Sportrasen. Es war eine Wiese, diagonal durchzogen von einem Trampelpfad, den die Lagerbewohner als Abkürzung auf dem Weg zum Bindermichl nutzten. Die Zuschauer waren hautnah am Geschehen. Wir Buben umstanden meist das gegnerische Tor, um den Tormann nervös zu machen. Das wilde Getrappel der Stoppeln, wenn die Spieler bei einem Corner einander im Strafraum bedrängten und herumstießen, ist mir im Ohr geblieben.
Fußball aber war damals nicht die Kernkompetenz von Union Edelweiß. Die Kernkompetenz war Handball. Feldhandball. Oft hat der Ball sich auf der Wiese versprungen, Tore aber gab es dennoch viele.
Ein Spiel habe ich in besonderer Erinnerung. Es war in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre. Edelweiß spielte gegen eine Mannschaft aus Hamburg ("Hammer Hamburg!" hat Michael Stertz bei meiner Rede aufklärend eingeworfen). Wie üblich belagerten wir das Tor des Gegners. Der Tormann hatte sein Maskottchen, einen als Matrosen bekleideten Teddybären in ein Eck gestellt und unterhielt sich freundlich mit uns.
Er deutete auf einen unserer Spieler und sagte: "Wo der hinschießt, da wächst kein Gras mehr". Ich stand neben dem rechten Pfosten, als dieser Spieler seinen nächsten Sprungschuss abfeuerte. Der Ball verfehlte das Tor, traf mich im Gesicht und warf mich zu Boden. Ihr wisst natürlich, wer da so scharf geschossen hat: Karl Bundus, unser Stürmerstar.
Bei der 50-Jahr-Feier von Union Edelweiß 1998 habe ich u.a. meinen Vorgänger in der Funktion des Oberministranten getroffen, der aus Deutschland angereist war. Rückblickend hat er gemeint: "Was wäre aus uns ohne Kirche und Sportverein geworden? - Verbrecher. Verbrecher wären wir geworden." Das war sehr pointiert gesagt, aber der Satz hat einen wahren Kern. Nicht wenige Kinder und Jugendliche im Lager waren in zerstörten, in zerrissenen Familien als Halbwaisen oder Waisen aufgewachsen, der Vater gefallen oder vermisst, die Mutter und die älteren Geschwister in der Fabrik - da ist die Großmutter, so es sie gab, so manchen Buben nicht Herr geworden.
Die Kirche, personifiziert in Pfarrer Fischer, und der Sportverein haben Entlastung und Orientierung bei der Erziehung geboten.
Die Trainings- und Wettkampfangebote von Union Edelweiß für Handball, Fußball, Tischtennis haben ungestüme Energien in soziale und sportliche Bahnen gelenkt.
Pfarrer Fischer organisierte Ferienlager und Ausflüge für die Ministranten: an den Grundlsee, ins Bergwerk nach Altaussee, auf den Feuerkogel, nach Bad Ischl oder nach Salzburg in den Mirabellgarten.
Ab Mitte der fünfziger Jahre war ich mit meinen Altersgenossen regelmäßig auf anderen, großartigen Sommerlagern - mit der "IMKA" wie wir zu sagen pflegten, der Y.M.C.A., die auch nach dem Abzug der Amerikaner noch aktiv war.
Allmählich aber leerte sich unser Sternsystem. Die Sterne flogen auseinander. Nach und nach verschwanden Freunde aus der Reihe der Ministranten, der Schülermannschaft oder dem Akkordeonorchester unseres Musiklehrers Pill.
Sie wanderten mit ihren Eltern aus in die USA, nach Canada, Australien, Brasilien oder nach Deutschland. Man verabschiedete sich, grinste sich an und wusste, dass man einander kaum je wiedersehen würde.
Einen meiner damals besten Freunde habe ich 1956 zum Zug begleitet, der ihn mit seinen Eltern und Geschwistern nach Hamburg brachte, von wo sie mit dem Schiff nach New York und von dort nach Los Angeles, ihrem Ziel, weiterfuhren.
Ein Dutzend Jahre später hat ihn die Regierung seiner neuen Heimat in den Krieg nach Vietnam geflogen.
Aus dem Krieg, in den Krieg.
Noch sehr deutlich habe ich vor mir, wie mein Vater mit einigen anderen Männern die Schalung für den Sockel des Denkmals zimmert, von dem diese Tafel stammt. Am folgenden Tag haben sie den Beton gemischt und hinter die Schalung gekippt.
Am 3. Oktober 1953 wurde das Denkmal von Bischof Zauner eingeweiht.
Im Rahmen dieser Feier war auch mir eine Rolle zugeteilt: ich hatte ein Gedicht aufzusagen. Mir wurde eingeschärft, laut, klar und ohne Stocken zu sprechen. Um das sicherzustellen, haben meine Schwestern mich vor meinem Auftritt abgehört. Es hat geklappt.
Der Text dieser Tafel klingt heute in manchen jungen Ohren vielleicht pathetisch oder gar politisch unkorrekt:
Den Opfern des Krieges und der grausamen Kriegsfolgen unseren donauschwäbischen Männern, Frauen und Kindern, die für uns auf dem Felde der Ehre, in Verfolgungs- und Vernichtungslagern, auf der Flucht und auf der Suche nach einer neuen Heimat ihr Leben lassen mussten - zum ewigen Gedenken.
Das kommt: Die dazugehörigen Köpfe können sich nicht mehr in Menschen hineindenken und hineinfühlen, die - noch unter dem Eindruck des Schreckens - ihren gefallenen und ermordeten Angehörigen ein Erinnerungsmal gesetzt haben.
Angesichts dieser Inschrift drängt sich die Frage auf, ob Menschen etwas aus der Geschichte, aus ihren Kriegen und Auseinandersetzungen lernen. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel war diesbezüglich pessimistisch:
Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.
Hat Hegel Recht?
Haben die Europäer aus zwei Weltkriegen keine nachhaltige Lehre gezogen?
Ist die EU nicht ein einzigartiges Friedensprojekt?
Bis zum Krieg der NATO und EU gegen Jugoslawien habe ich das gern geglaubt. Mittlerweile gibt es wieder Krieg in Europa, diesmal in der Ukraine.
Global gesehen hat der Krieg überhaupt nie aufgehört. Zur Zeit, so die UNO, sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie im Zweiten Weltkrieg.
Wie immer die Schuldzuweisungen zu all diesen Kriegen lauten - in der Regel schaukeln die Gegner einander auf und machen sich wechselseitig für den Ausbruch von Gewalt verantwortlich - Fakt ist: das 1945 beschworene Tabu des Krieges hat selbst in Europa kaum zwei Generationen lang gehalten.
So lange Verheißungen "charismatischer" Politiker Gehör finden, so lange politische Konzepte erfolgreich propagiert werden, die unversöhnlich sind, so lange gibt es keinen Frieden.
Es bleibt die Hoffnung auf eine skeptischere Menschheit und damit auf eine Zukunft, die auskommt ohne Denkmäler mit Inschriften wie auf dieser Tafel.
Anmerkung
Ich ärgere mich über den letzten Satz.
Er ist mir im gesprochenen Text entschlüpft, weil ich der Konvention nach einem "positiven Ausblick" unnötig Tribut gezollt habe.
Zutrifft vielmehr:
Je älter ich werde, je länger ich den Lauf der Welt verfolge, umso schwerer wird es mir, Indizien zur Begründung einer solchen Hoffnung wahr zu nehmen. |
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