Arbeitsmarktpolitik auf Abwegen?

15. 06. 2015

Das Resümee war meine letzte Wortmeldung zum Arbeitsmarktservice. Alle Angebote, die ich bei meiner Pensionierung 2010 erhalten habe und die unmittelbar mit meiner Tätigkeit beim AMS zu tun hatten - etwa Kolumnen zur Arbeitsmarktpolitik zu verfassen, Konsulententätigkeit bei verschiedenen Einrichtungen - habe ich 2010 abgelehnt.

Als mich jüngst (Frühjahr 2015) ein politischer Verantwortungsträger kontaktiert und nach meiner Meinung zur aktuellen Situation und Strategie des AMS gefragt hat, habe ich jedoch geantwortet - etwa so, wie im folgenden ausgeführt und wie es mir ohne detaillierte Insider-Informationen möglich ist. Ich konzentriere mich dabei auf Aspekte, die mir wichtig erscheinen.

Die Arbeitslosigkeit steigt seit geraumer Zeit vor allem bei über 50jährigen Personen. Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt zu. Erklärt wird dies in den Medien durch die demographische Entwicklung, durch eine "präzisere" Erfassung der Langzeitarbeitslosigkeit und durch den Verzicht auf Kurse, in denen Arbeitslose "versteckt" worden sind.

Diese affirmative Erklärung (vorwiegend aus der Quelle des Sozialministeriums) lenkt von politischen Motiven und Ursachen ab, die öffentlich kaum diskutiert werden.

Vorruhestand mittels Arbeitslosigkeit

In Reaktion auf die überbordenden Frühpensionierungen aufgrund von "Invaliditiät" - einzigartig in Europa - haben die Koalitionsparteien 2012 den Zugang zur Invaliditätspension erschwert. Statt dessen sollten Antragsteller vom AMS rehabilitiert werden.

Die Frühpensionsstatistik und das Budget der Pensionsversicherung wurden entlastet, die Arbeitslosigkeit erhöht und die Arbeitslosenversicherung belastet.

Voraussehbar, kräftig und zum geheuchelten Bedauern der verantwortlichen Politiker. Den Anteil "arbeitsmarktferner" Kunden des AMS haben die Entscheidungsträger schon durch den Auftrag an das AMS, die "Mindestsicherung" abzuwickeln, verfestigt. Nun kamen und kommen pensionswillige über 50jährige dazu, die das AMS rehabilitieren und vermitteln soll.

De facto ist dies die jüngste Metamorphose des beliebten Vorruhestands: Die Rehabilitations- und Vermittlungserfolge bleiben im Verhältnis zu den politisch erzeugten Perioden der Arbeitslosigkeit Älterer natürlich zurück.

Daran ändert sich wenig, auch wenn ältere Arbeitslose forciert in geförderte Beschäftigungsverhältnisse gebracht werden sollen. Die Arbeitgeber in den Organen des AMS machen diesbezüglich offenbar Druck:

In diesem Zusammenhang müsse man aber auch hinterfragen, ob das AMS die Gelder immer effizient einsetze. Kapsch hielte es für sinnvoller, noch stärker auf die Bezuschussung von neuen Arbeitsverhältnissen zu setzen (Eingliederungsbeihilfe, Kombilohnmodell) und weniger auf klassische Qualifizierungsprogramme [DER STANDARD, 10. Juni 2015]

Dass prominente Arbeitgebervertreter an Lohnsubventionen für Ältere mehr interessiert sind als an der marktgerechten Qualifizierung jüngerer Arbeitsuchender, finde ich überraschend - aber sehr österreichisch.

Politische Leichtfertigkeit

Ist die politisch verursachte höhere Arbeitslosigkeit von über 50jährigen "ehrlicher" als die Frühpension?

Nein. Sie ist nur genau so fahrlässig, wie die politische Ermutigung zum Vorruhestand vor 30 Jahren in der Verstaatlichten Industrie und die nachfolgende Erleichterung des Zugangs für alle Arbeitnehmer in unterschiedlichen Formen (Sonderunterstützung, Langzeitarbeitslosengeld, Hacklerregelung, leicht zugängliche Invaliditätspension - Altersteilzeit und Teilpension als gelindere Abfederungen).

Die Pensionsreform 2003 war eine wichtige, aber vorübergehende Kurskorrektor. Die nachfolgenden Regierungen haben diese Reform "entschärft" und verwässert - ausgenommen bei den Bundesbeamten. Sie treten die Pension später an als alle übrigen Beschäftigten.

Die politische Erzählung zum Vorruhestand lautet ungefähr so: Österreicher gehen früher in Pension, weil die Arbeitsbedingungen in den Betrieben so unfreundlich für ältere Beschäftigte sind. Die hohe "Invaliditätsrate" der Frühpensionisten beweise dies. Frühpension, Vorruhestand und / oder "Rehabilitation" und / oder geförderte Beschäftigung über 50jähriger etc sind somit unausweichlich. Auch die OECD plaudert diesen Zirkelschluss aufgrund blauäugig interpretierter Statistiken nach.

Arbeitsamt reloaded?

Der Verschub eines Problems der Pensionsversicherung in die Agenda des AMS bringt diese Institution mehrfach unter Druck: budgetär, personell, mental. Das Profil des AMS und seine Position auf dem Arbeitsmarkt werden sich ohne Gegensteuerung wohl verändern.

Budgetär, weil allein 60 Prozent der Gelder für die Zielgruppe 50 plus für die betriebliche Einstellförderung verwendet werden. Damit fehlen Mittel für die überwiegende Anzahl der nicht oder gering qualifizierten Arbeitslosen.

Die Erzählung der Entscheidungsträger zu diesem Schwenk:

1. Bewerbungskurse sind überflüssig und dienen der statistischen Kosmetik. - Ein Pseudo-Argument: Bewerbungskurse sind für viele Arbeitsuchende hilfreich und für manche ein klares Signal, dass Arbeitslosigkeit ein sozial unerwünschter Zustand ist. Das AMS muss die Teilnahme an solchen Veranstaltungen auch nicht in die Verweildauer rechnen, um die Statistik zu schönen.

2. Arbeitsuchende werden zuhauf in "unpassende" Kurse eingewiesen. - Hat ein Volksanwalt oder ein Journalist, der solche Meldungen dankbar aufgreift und öffentlichkeitswirksam verbreitet, je den Begriff "unpassend" definiert und die Quote "unpassender" Qualifizierungsangebote versucht zu ermitteln? Die Fehlerquote vermute ich aufgrund des Rekrutierungsvorgangs bei Qualifizierungsangeboten zumindest in Oberösterreich im Promillebereich.

Jede marktgerechte berufliche Qualifizierung verbessert den Status eines Arbeitslosen.

Eine geförderte Einstellung hingegen ist mit einem hohen Risiko von Mitnahmeeffekten belastet und verbessert die Stellung des Arbeitsuchenden kaum. Dieses heikle Instrument aus dem Giftschrank der Arbeitsmarktpolitik massenhaft einzusetzen halte ich für verfehlt.

Personell, weil die Mitarbeiter des AMS ihre Aufmerksamkeit und Energie auf die politisch gesetzten Prioritäten richten. Der Personaleinsatz für die Qualifizierung Arbeitsloser und für das Service für Unternehmen wird eingeschränkt zu Gunsten der Beschäftigung mit "arbeitsmarktfernen" Personen, zu Gunsten der finanziellen Versorgung, der Rehabilitation und der Einstellförderung über 50jähriger Arbeitsloser.

Mental, weil early intervention kein Ziel mehr ist, weil in internen Papieren etwa diskutiert wird, Personen über 58 gar nicht mehr zu servicieren (ein fatales Signal an Betriebe, Betriebsräte und vorruhestandsorientierte Beschäftigte) und weil die Ambition bei der Verkürzung der Perioden von Arbeitslosigkeit zurückgenommen wird ("leichte Fälle werden sich selbst überlassen", "schwierigste Fälle werden aufgegeben"). - Ich halte das für einen massiven Einschnitt. Dafür zu sorgen, dass Arbeitslosigkeit nicht länger dauert, als der Markt es erzwingt, war in den ersten zwanzig Jahren nach der Ausgliederung 1994 ein zentrales, stets operativ formuliertes Ziel. Es musste geduldig und gegen Widerstände in der Organisation verbreitet und verankert werden. Diese Orientierung verliert offenbar an Bedeutung.

Das Profil des AMS und seine Position auf dem Arbeitsmarkt werden bestimmt von den wechselseitigen Erwartungshaltungen der Kunden und den Mitarbeitern und Organen des AMS. Nehmen Arbeitskräfte und Unternehmen das AMS nicht als Einrichtung wahr, die auf Minimierung der Dauer von Arbeitslosigkeit ausgerichtet ist, Hilfestellung bei der Qualifizierung und umfassendes Service für Unternehmen bietet, sondern eher als ein gemächliches Versorgungs- und Subventionsinstitut, wäre dies ein Rückschritt.

Die politische Verortung des AMS

Im Jahr 2000 wechselte die politische Verantwortung für das AMS nach über 50 Jahren aus dem Sozialministerium in das Wirtschaftsministerium. Die Rückkehr zum Sozialministerium 2008 hat nach meiner Wahrnehmung das Management im AMS nicht euphorisiert.

Vor allem die Reformer von 1994 haben in derZeit der Zugehörigkeit des AMS zum Wirtschaftsministerium erfahren, dass das AMS sein arbeitsmarktbezogenes Profil schärfen und sein Image bei Unternehmen und Arbeitskräften deutlich verbessern konnte.

Im Sozialministerium sind neben dem AMS auch Pensionsangelegenheiten und soziale Agenden politisch verortet. Zum Nachteil des AMS, wenn dem AMS Pensions- oder Sozialprobleme zur Lösung angehängt, arbeitsmarktnahe Agenden wie das "Jugendcoaching" aber dem Bundessozialamt zugeordnet werden.

Dass es zu einer Verwaltungsreform kommt, in deren Rahmen Doppelstrukturen (Bundessozialamt / Sozialämter der Länder) aufgelöst und das AMS aus der Umklammerung anderer Institutionen befreit wird - das freilich ist zu bezweifeln.

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Das Arbeitsmarktservice (AMS) bekommt mehr Mittel für die Wiedereingliederung älterer Arbeitsloser. Den Beschluss im Nationalrat trugen am Mittwoch alle sechs Parteien mit.... Mit zusätzlichen AMS-Mitteln (250 statt 120 Mio. Euro für 2016 und 2017) soll über 50-Jährigen, die länger als sechs Monate auf Jobsuche sind, geholfen werden, wieder im Arbeitsmarkt unterzukommen - mit Eingliederungsbeihilfen, Kombilohn oder Beschäftigungsprojekten. Das hielten alle Abgeordneten für sinnvoll, wobei den Neos missfiel, dass zu stark auf Wiedereinstiegshilfen gesetzt werde. Sozialsprecher Gerald Loacker hielte mehr Mittel für die Qualifikation und Weiterbildung schon im Job für sinnvoll [DER STANDARD, 17. Juni 2015]

Nur einer? - Nur einer. Gestimmt haben die NEOS dennoch für die Subvention, statt zB einen Gegenantrag für Qualifizierung einzubringen.

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Drastischer Anstieg bei Langzeitarbeitslosen... Bei den über 50-Jährigen stieg die absolute Zahl der Arbeitslosen um 16 Prozent auf 85.648 ... Im Mai ist Österreich im OECD-Vergleich innerhalb der EU bei den Arbeitslosenzahlen auf den sechsten Platz zurückgefallen [DER STANDARD, 1. Juli 2015]

Stolz verkündet der Sozialminister den Anstieg des Pensionsanfallsalters. Dass dieser Erfolg nicht zuletzt mithilfe und zu Lasten des AMS erzeugt und erkauft wird, dass das AMS für vormalige Vorruhestandskandidaten möglicherweise mehr Mittel aufwendet, als die Pensionsversicherung einspart, diese Mittel aber jedenfalls in der aktiven Arbeitsmarktpolitik fehlen - davon ist in den Medien nahezu keine Rede. - Von der Praxis der griechischen Politkaste der letzten Jahrzehnte unterscheidet sich diese erfolgreich verkaufte Trick-Politik nur graduell.



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