Narrative |
15. Oktober 2024 Ein Freund schickt mir den Link zu diesem Artikel
Israel und Ukraine - Über Fürsten und Glaubenskriege
und fragt mich nach meiner Meinung.
Methodische Vorbemerkung
Aus derselben Wolle lassen sich Socken oder Pullover stricken.
Will sagen:
Die widersprüchlichen Narrative Russlands, der NATO, Israels und der Palästinenser (in den jeweiligen Lagern gibt es dazu meist rabiate und weniger rabiate Varianten) beziehen sich alle auf Fakten, bringen sie jedoch in unterschiedliche Sinnzusammenhänge entlang der jeweiligen Interessen. Keines dieser Narrative ist "wahr". Ein Narrativ ist lediglich ein mehr oder weniger aufrichtiges (= mit einem mehr oder weniger großen Anteil an Auslassungen oder Verfälschungen von Fakten) und plausibles (= eher durch Logik und Empirie als durch Glaubenssätze und "Werte" verbundenes) Konstrukt (1).
Die rabiateren unter den Konstrukteuren der jeweiligen Narrative (etwa palästinensische und israelische Maximalisten) halten es für überflüssig, naiv oder sinnlos, über ihre und die gegenteiligen Konstrukte in einen Dialog zu treten. Sie setzen auf Sieg und rechtfertigen die zielführenden Handlungen in der Regel mit viel Moralin oder berufen sich wie Islamisten und national-religiöse Israelis auf ihren ganz und gar nicht lieben Gott.
Aus meiner persönlichen Lebenserfahrung und aus meiner Kenntnis der Geschichte habe ich den Eindruck gewonnen:
Konflikte zwischen Individuen, Interessengruppen und Staaten werden seltener durch Kommunikation, Vereinbarungen und intelligente Kompromisse als durch Anwendung eines immer vorhandenen Machtgefälles gelöst. Die machtbasierte Auflösung des Widerstreits von Interessen bedarf in vielen Fällen keiner sichtbaren, keiner physischen Gewaltanwendung. Meist genügt dazu eine formelle oder informelle Hierarchie (der Ober sticht den Unter) oder es reichen Druckmittel - vom Liebesentzug bis zu ökonomischen und politischen Sanktionen aller Art - um die mächtigeren Interessen durchzusetzen. Gewalt und Krieg sind lediglich die äußerste Form des Willens, einen hartnäckigen Widerstand zu brechen.
Der Ausgang eines Konflikts unter Einsatz von Gewalt hängt vor allem davon ab, welche Konfliktpartei über den besseren Realitätsbezug verfügt, also wer das tatsächliche Machtgefälle richtiger und damit die Chance auf die Durchsetzung der eigenen Interessen besser einzuschätzen weiß als der Gegner. Wer das ist wird im Verlauf des Konflikts deutlicher und steht fest, wenn die Gewalt zum Erliegen gekommen ist.
Der Autor des oa Textes strickt am gängigen Narrativ des "Westens" und Israels. Der relativierende Zugang der Konstruktivisten zum Thema "Wahrheit" ist ihm vermutlich fremd oder erscheint ihm moralisch verwerflich.
Zur Sache
Ich beschränke mich bei meinen Anmerkungen auf drei Punkte:
1) Der Autor zählt zu jenen Narratoren, die Konfliktvermeidung für illusionär halten und führt verächtlich aus: Brave deutsche Friedensforscher pflegen dazu eine feste Meinung zu vertreten. Man müsse nur immer im Gespräch miteinander bleiben!... Die braven deutschen Friedensforscher haben leider einen Punkt außer Acht gelassen, der aber der wichtigste ist, nämlich dass der Beginn eines Krieges regelmäßig darin besteht, dass alles Reden und Verhandeln kategorisch verworfen wird.
2) In Sachen Ukraine setzt der Autor auf die Erschöpfung Russlands und hofft auf eine Palastrevolution gegen "Putin".
3) Im "Existenzkampf" Israels hofft er auf einen militärischen Sieg Israels, wobei die Bombardierung ziviler Einrichtungen zu einem Überlebensimperativ werden kann. Dass Israel in vielen Teilen der Welt mit seinen Bombardements und dem "Kollateralschaden" von bisher über 40.000 Toten auf Unverständnis und Ablehnung stößt ist ihm klar. Er hofft, dass Israel sich als "großzügiger Sieger" erweisen wird, ein Sieger, der nicht "triumphiert" und daher dauerhaft Frieden schaffen kann.
ad 1) Der Krieg in der Ukraine hat tatsächlich damit begonnen, dass alles Reden und Verhandeln kategorisch verworfen worden ist. Von Russland? Belege dafür kenne ich nicht. Ich kenne nur Belege für das hartnäckige Beharren des "Westens", dass es Russland egal sein muss, wer Mitglied der NATO wird oder nicht. Russland war das nicht egal. Seit der absprachewidrigen Osterweiterung der NATO (2) hat Russland immer wieder eine europäische Sicherheitsvereinbarung gefordert. Vergeblich (3). Die NATO hat Russland für so schwach gehalten ("Tankstelle mit Atombombe"), dass Russland gegen ihre Expansion in den Unterleib Russlands einschließlich der Krim ohnehin nichts unternehmen werde. Das hat sich als Fehleinschätzung erwiesen.
ad 2) Wie Europa / die Welt aussehen wird, wenn die Waffen in der Ukraine nachhaltig schweigen weiß zur Zeit niemand. Dass die Ukraine Russland besiegen und Putin durch einen handzahmen Vasallen der NATO ersetzt wird zählt nach dem bisherigen Kriegsverlauf zu den unwahrscheinlicheren Optionen. Nur wenn es der Ukraine gelingt, die NATO unmittelbar in den Krieg zu ziehen könnte Russland "ruiniert" werden, wie Frau Baerbock es ersehnt. Freilich zu einem Preis, den die Mehrheit der Europäer - wenn es zu dieser Eskalation kommen sollte - im Nachhinein sicher nicht hätte zahlen wollen.
ad 3) Die PLO hat das Existenzrecht Israels bereits 1993 (4) anerkannt. Der friedensbereite Ministerpräsident Israels Rabin wurde von einem Aktivisten jener Kräfte ermordet, die den Friedensprozess gestoppt haben und die Linie der heutigen Regierung Israels bestimmen. Die israelischen Nationalisten sind nicht weniger fanatisch und kompromisslos als die Radikalen unter den Moslems. Israels Regierung schreckt weder vor der Vernichtung von Zivilisten im Gaza-Streifen, noch vor der UNO zurück. In Israels Regierung gibt es Leute, die offen von der Vertreibung oder Vernichtung der Palästinenser aus Gaza und dem besetzten Westjordanland reden und sich dabei auf die Verheißungen des israelischen Gottes berufen (5). Israel hält sich für stark genug, um all seine Feinde zu vernichten: die Hamas, die Hisbollah, den Iran... Bei nahezu 2 Milliarden Moslems auf der Welt wachsen freilich auch die Fanatiker darunter immer nach. Die Vorstellung vom "Endsieg" Israels halte ich für unrealistisch. Zudem fehlt mir die Phantasie, wie ein "großzügiger Sieger" Israel Frieden in der Region schaffen soll.
Israel gilt in weiten Teilen der Welt - vor allem in Afrika - als ein auf Expansion bedachtes neokoloniales Projekt. Es ist völlig egal, ob man diese Vorstellung im "Westen" für falsch hält oder nicht: diese Einschätzung ist ein politisches Faktum, das der Westen durch die "bedingungslose Unterstützung" Israels nicht aus der Welt schaffen sondern verfestigen wird. So läuft das halt nach den Gesetzen der politischen Physik.
Wenn ich recht verstehe, lehnt Israel einen gemeinsamen Staat mit den Palästinensern ab, aber auch einen selbständigen Staat der Palästinenser. Unter diesen Voraussetzungen muss die Bevölkerung Israels wohl weiter mit dem Terror der Besetzten und diese mit den "Vergeltungschlägen" Israels leben. (2) Abmachung 1990: Keine Osterweiterung der NATO - Aussenminister Genscher & Baker [Video] (3) Der Kreml hat Forderungen zum Ende der Nato-Osterweiterung vorgelegt. Präsident Putin will über einen neuen Sicherheitspakt verhandeln... Für die Nato ist die Sache klar: Russland hat kein Mitspracherecht dabei, wer Mitglied des Militärbündnisses wird und wer nicht [DIE ZEIT] |
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