Ende einer Beziehung

12. Juli 2024

Wir wollen damit eine intelligente, mündige, überregionale Tageszeitung schaffen, die von allen Interessengruppen unabhängig ist. Eine Zeitung, die niemand anderem als den Lesern und der höchsten Professionalität verpflichtet ist. Wir wissen, dass es Objektivität nicht gibt, aber wir können versuchen, uns ihr asymptotisch zu nähern

... werden wir versuchen, unsere Leser mit der Realität zu konfrontieren...

Wir selbst wollen nicht verändern, sondern Veränderungen erkennbar machen. Wir wollen nicht beeinflussen, sondern Beeinflussungen aufzeigen.

OSCAR BRONNER, Brief des Herausgebers, 19. Oktober 1988



Nach meinem Geschmack

Die Nummer 1 des STANDARDs vom 19. Oktober 1988 habe ich mit Interesse erwartet. Ich habe sie auf einem Bahnhof in Deutschland gekauft, da ich auf Dienstreise war. Nun habe ich das angegilbte Blatt der Lade entnommen, in der ich es aufbewahre, um aus dem programmatischen Statement des Herausgebers zu zitieren. Der STANDARD war seit den Vorankündigungen ein Projekt nach meinem Geschmack.

Medien sind Fenster zur Welt. Diese Fenster sind an den Seiten des Gebäudes postiert, in dem der Leser sich bewegt, genauer: sich bewegen kann oder bewegen will. Die Ausblicke nach einer Windrichtung unterscheiden sich nur geringfügig im Winkel nach oben, unten oder seitlich. Wem kein Ausblick nach Norden, Süden, Westen und Osten verwehrt ist oder wer auf verfügbare Ausblicke nicht aus Bequemlichkeit verzichtet verfällt nicht der Illusion, dass die Welt überall gleich aussieht.

Der STANDARD ist der programmatischen Selbstverpflichtung lange nachgekommen, den Leser "mit der Realität zu konfrontieren", dh ihm unterschiedliche Blickwinkel darauf zu ermöglichen. Der "Kommentar der anderen" etwa hat diesem Ziel gedient. Mehrfach konnte ich selbst diese Gelegenheit bei umstrittenen arbeitsmarktpolitischen Themen nutzen.

Großartig habe ich die Einführung des digitalen STANDARDs gefunden. Leser bekamen die Möglichkeit, ihre Sichtweisen zu Berichten und Kommentaren durch Postings in Kommunikation mit anderen Usern einzubringen. Von Beginn an war ich dabei. Da ich meine berufliche Rolle nicht mit persönlichen Äußerungen vermengen und belasten wollte, habe ich - wie fast alle User - nicht meinen Klarnamen, sondern einen Nick benutzt.

Nicht nach meinem Geschmack

Rasch entwickelten sich wie bei jeder positiv empfundenen Innovation auch die Schattenseiten dieses Forums. Threads, in denen die Poster einander zuhören und zu verstehen versuchen waren von Anfang an seltener als Stakkati an Rechthaberei, Aggressionen und Unterstellungen ("bezahlter Troll").

Die Moderatoren des Forums mahnten daher die "Netiquette" ein und löschten ordinäre, diskriminierende oder aggressive Äußerungen. Mir fiel dabei eine Tendenz auf: aggressive, verächtliche Repliken auf Postings, die von den Moderatoren offenbar als "konservativ", "rechts" oder "illiberal" eingestuft wurden, blieben unzensuriert.

Diese Praxis war / ist Ausdruck der Blattlinie: anti-VP, anti-FP, SP-verzweifelt, grün-affin, NEOS- und NATO-freundlich, russophob bis zum kaum verhohlenen Russenhass.

Großen Anteil daran haben nach meiner Wahrnehmung Kommentatoren wie Rauscher, Frey, Mayer, Lendvai und ihr Gefolge in der community des STANDARDs. Das Gefolge belohnt und verstärkt die Linie der Publizisten durch freundliche bis frenetische Zustimmung. Dabei lässt die Moderation die Schmähung kritischer Einwände durch üble Zuschreibungen ("schwachsinnig", "wahnsinnig", "deppert" etc) zu.

Nicht mehr nach dem Geschmack des STANDARDs

ist mein Account als User. Anlass: Ein "Einserkastl" Rauschers. Wer schießt eine Rakete auf das größte Kinderkrankenhaus in Kiew und lügt dann anschließend, es wäre ein US-Geschoß gewesen? Selbstverständlich das Regime des Wladimir Putin, gemeinsam mit den (auch westlichen) Handlangern im Desinformationsbusiness.

Dazu hab´ ich mir erlaubt, die russische Darstellung des Vorfalls zu posten, die Russland mit Videos zu belegen versucht. Diese zeigen vier Marschflugkörper, die aus großer Höhe unbehelligt von Abwehrraketen auf ein und dasselbe Ziel stürzen (= Artjom - eine große Maschinenfabrik im Kiewer Schewtschenko-Bezirk, die auch Rüstungsgüter für Präzisionswaffen herstellt) und es offensichtlich zerstören (gewaltige Feuer- und Rauchwolken).

Aus westlicher Richtung fällt eine schlanker und kleiner aussehende Rakete auf ein Nebengebäude der Kinderklinik und explodiert. Nach russischer Vermutung ist das eine NASAMS, die einen Marschflugkörper verfehlt hat. Hätte an ihrer Stelle der Marschflugkörper mit seinem 400 kg schweren Gefechtskopf eingeschlagen - so Russland - wäre nicht ein Nebengebäude eingestürzt, sondern gähnte anstelle der Klinik ein Krater und nicht zwei, sondern viele Menschen wären tot.

Was "wahr" ist, weiß ich nicht. Rauscher aber auch nicht.

Ich weiß nur seit dem Krieg in Vietnam (Tonkin-Zwischenfall), dem ersten und zweiten Irak-Krieg (Brutkastenlüge), (Massenvernichtungswaffen) und dem Jugoslawienkrieg (Hufeisenplan) wie hervorragend Propaganda funktioniert.

An mein Posting knüpfte sich ein ellenlanger thread, in dem mich eine Reihe von Rauscher-Fans mit wüsten Beschimpfungen ("wahnsinnig" "zynisch", "Russen-Bot" etc) belegten. In einer Replik schrieb ich, dass ich unter Qualitätsjournalismus praktizierte Kritikfähigkeit nach allen Seiten verstehe und nicht die emotionsgeladene Weiterverbreitung von Behauptungen einer Partei. Diese Bemerkung hat vielleicht den Ausschlag gegeben:

Nach dem vergeblichen Versuch, einem weiteren User zu antworten, erhielt ich folgende Mitteilung der Moderation:

Ihr Posting wurde nach einer inhaltlichen Prüfung gelöscht. Diese Maßnahme wurde dauerhaft auf derStandard.at gesetzt, da es gegen unsere Community-Richtlinienverstößt:

Störung durch fehlenden Themenbezug

Die gegenständliche Maßnahme beruht nicht auf automatisierte Mittel ("automatisierte Mittel" hätten vermutlich den richtigen casus gewählt, Herr Redakteur / Frau Redakteurin). Sie haben unter Umständen die Möglichkeit, Ihren Fall an eine entsprechend zertifizierte außergerichtliche Schlichtungsstelle oder an Ihre lokalen Gerichte zu verweisen

Gelöscht wurde mit meinem Ausgangsposting der ganze thread, also auch alle Anwürfe der Rauscher-Fans und meine bemüht kühlen Repliken. Das war aber nicht alles:

Wegen Verstößen gegen die Forenregeln werden Ihre neu verfassten Postings nicht mehr veröffentlicht.

Damit ist meine Nick-Name-Kommunikation zum STANDARD und seinem Forum zu Ende. Sie hat über ein Vierteljahrhundert gedauert und bestand aus rund 5.000 Postings meinerseits.

Mir fällt nicht im Traum ein, dagegen gerichtlich oder außergerichtlich vorzugehen. Ich empöre mich nicht und vergeude meine Zeit nicht mit einem pseudoliberalen Larifari.

Es steht dem STANDARD frei, welchen Informationen und Interpretationen er Raum gibt oder nicht, wie grotesk die Begründung für meinen Ausschluss ("Störung durch fehlenden Themenbezug") auch sein mag. Die Enthüllung einer Illusion ("Wir wollen nicht beeinflussen, sondern Beeinflussungen aufzeigen") ist immer ein Gewinn an Realitätsbezug.

Ich verstehe die Entscheidung des STANDARDs als Beleg für die Verengung der politischen Diskussion im Dienst einer Kriegspartei. Ein Krieg, der m. E. nicht im Interesse Europas geführt wird, ein Krieg, der den politischen, ökonomischen und kulturellen Interessen weitaus der meisten Europäer in West und Ost massiv und nachhaltig schadet.

Eine ähnliche Verengung der Diskussion habe ich im Jugoslawienkrieg erlebt - auch mit einem Heiligenschein.



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