"Habt keine Angst vor der Zukunft!"

23. 06. 2024

ermunterte jüngst der Vorsitzende des Elternbeirats eines Realgymnasiums frisch gebackene Maturanten bei der Übergabe der Reifezeugnisse. Einer meiner Enkel war darunter.

Schüler und Studenten meiner Generation mussten zur Zuversicht nicht aufgefordert werden. In Wirtschaft und Gesellschaft schien es nach den Verheerungen des Weltkriegs ununterbrochen bergauf zu gehen.

Seit geraumer Zeit hat das Lebensgefühl sich geändert.

In den neunziger Jahren ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt (NATO). 2008 erschütterte eine US-Finanzkrise die Weltwirtschaft. 2014 sagten ostukrainische Autonomisten sich von der Putschregierung in Kiew los und wurden seither bekriegt. Ein paar Jahre später löste ein neuartiges Virus weltweit Panik-Reaktionen und wirtschaftliche Turbulenzen aus. Diese waren noch nicht abgeklungen, als der Krieg in der Ukraine zur Konfrontation zwischen NATO und Russland eskalierte. Das mittlerweile 14. Sanktionspaket der EU gegen Russland und Boykottmaßnahmen der USA und EU gegen China schlagen vor allem auf die Wirtschaft in der EU zurück (1).

Österreich und Europa sollten jetzt rasch aufwachen, um die Industrie in Europa zu halten. Die notwendigen standortpolitischen Antworten auf veränderte globale Rahmenbedingungen müssen schnell und umfassend gegeben werden, um den weiteren Abstieg zu verhindern
- so der vermutlich wirkungslose Appell des IV OÖ-Präsidenten Pierer beim Industriempfang zwei Tage vor dieser Maturafeier.

Während der Elternvertreter sich bei Lehrern, Eltern und Schülern bedankte schweiften meine Gedanken weiter:

Wäre es einem Festredner auf einem britischen College 1824 oder 1924 in der Hochzeit von Imperialismus und Kolonialismus eingefallen, die Absolventen aufzufordern, keine Angst vor der Zukunft zu haben? (2)

Hat sich das 2024 in GB oder in den USA geändert?

Kaum, sagte ich mir. Ambitionierte Absolventen höherer Schulen und Colleges im Westen müssen sich vor der Zukunft noch nicht fürchten. Vielleicht werden sie zunehmend auch für chinesische, arabische oder indische Kapitalisten arbeiten statt primär für mehrheitlich angelsächsische oder europäisch geführte Konzerne. Bis ihre Kompetenzen an Marktwert einbüßen, weil es genug chinesische, arabische, indische Techniker und Manager gibt, hat sich die Welt wohl mehrmals gedreht. Wer weiß wohin.

"Make Europe great again"

variiert Victor Orban Trumps Slogan zum Motto für Ungarns halbjährigen Ratsvorsitz, der am 1. Juli beginnt. POLITICO macht sich über diesen und andere EU-Slogans lustig.

Trumps und Orbans Aufrufe setzen voraus: die USA und Europa waren einst "great", sind es aber nicht mehr.

Das ist nicht zu bestreiten:

Die Brics-Länder produzieren heute 35,2 Prozent der Weltproduktion, während die G-7-Länder nur noch 29,3 Prozent herstellen. Seit 2022 sind die fünf größten Volkswirtschaften in absteigender Reihenfolge China, die USA, Indien, Russland und Japan. Chinas BIP (Brutto-Inland-Produkt) ist um etwa 25 Prozent größer als das der USA. Pro Person beträgt es etwa 30 Prozent des BIP der USA, aber bei einer 4,2-mal so großen Bevölkerung. Heute sind drei der fünf wirtschaftlich größten Länder Mitglied in der BRICS, während nur zwei davon Mitglied der G7 sind. Im Vergleich zu 1994 haben sich auch hier die Verhältnisse geändert. Denn vor 30 Jahren waren die USA, Japan, China, Deutschland und Indien die fünf wirtschaftlich größten Staaten, von denen noch drei zu G7 und nur zwei zu Brics gehörten (3) schreibt Jeffrey D. Sachs.

Die Ambition des "Westens", wieder "great" zu werden - ist das realistisch oder illusionär? Was verstehen die Verantwortungsträger darunter und was tun sie dafür?

Geht diese Ambition etwa einher mit dem ernsthaften Bemühen, Länder des europäischen Kulturkreises in friedlicher Kooperation zu vereinen, dh USA, EU, Russland und Länder Südamerikas? Könnte "Europa" so ökonomisch, politisch, kulturell Gewicht gewinnen gegenüber China, Indien, Arabien, Afrika?

Egal. Das findet nicht statt. Die Ambition der USA wieder "great" zu werden nimmt sowohl in der Interpretation Trumps ("America first") als auch in der Interpretation der Biden-Administration ("America is back") weder auf die EU, geschweige auf Russland oder auf Interessen südamerikanischer Länder Rücksicht. Trumps Interpretation hätte der EU allerdings Gelegenheit gegeben, sich zu emanzipieren: er hat sich für Europa nur unter dem unmittelbaren nationalen Interesse der USA interessiert, nicht unter dem Interesse der Weltherrschaft, wie Bidens Globalisten-Truppe. Das hat die Vasallen-Entourage in Europa in Panik versetzt: sie haben Biden begeistert begrüßt wie den Messias.

Die USA haben Russland, das größte und an Ressourcen reichste Land der Welt unter Duldung und zunehmender Mitwirkung der EU aus "Europa" gedrängt. Russland orientiert sich gezwungener Weise nach Asien und findet Neutralität oder Unterstützung im globalen Süden. Auch die USA suchen und pflegen Verbündete in Asien. Und die EU? Allein zuhause. Die "strategische Niederlage", die sie Russland gemeinsam mit den USA zufügen will, scheint nur durch eine Ausweitung des Krieges erzielbar zu sein, bei dem West- und Mitteleuropa wohl mit zugrunde gingen.

Was signalisiert Orban mit seinem Plagiat?

"Das Motto verdeutlicht die Idee, dass Europa ein unabhängiger globaler Akteur in unserer sich wandelnden Welt werden kann", sagte der ungarische Minister für europäische Angelegenheiten, János Bóka [rnd.de].

Lieb. - Im Unterschied zum Präsidenten der USA kann Orban als Ratspräsident für ein halbes Jahr am Kurs oder gar an den Strukturen der EU nicht das geringste ändern.

Wie macht man ein Imperium wieder "great"?

Sieht man sich in der Geschichte nach den dauerhaftesten Imperien um, kommt man um das Römische Reich nicht herum. Allein das Oströmische Reich (von 330 bis 1453 n. Chr. gerechnet) hatte über Tausend Jahre Bestand.

Byzanz verdankt seine Existenz nicht zuletzt einem Mann, der in der Erinnerungskultur der Kirche als Christenverfolger verfemt ist. Das hat die Kirche nicht daran gehindert, Diokletians Regionaleinteilung (Diözesen) zu übernehmen.

Aus einfachen Verhältnissen über das Militär zur Macht gekommen hat dieser interessante Mann die chaotische Phase der Soldatenkaiser beendet, nachhaltige Reformen (Verwaltung, Steuern, Militär) durchgesetzt, den Zerfall des Imperiums durch eine Kombination von Zentralisierung und Föderalisierung gestoppt und damit den Grundstein auch für Byzanz gelegt. Als einziger Kaiser hat er seine Funktion freiwillig zurückgelegt.

Hat der "Westen" noch das Potential, kreative, durchsetzungsfähige Gestalter eines solchen Formats hervorzubringen?

Biden? Trump? Johnson? Macron? Scholz? Habeck & Baerbock?

Das aktuelle Personal des US-Imperiums und seiner Vasallen weckt Zweifel an diesem Potential. Zumindest bei mir.

Warum haben die USA keinen Kissinger mehr, keinen Roosevelt, keinen Kennedy? Warum führt Frau von der Leyen die EU an und Deutschland ein Kanzler, der zur Zerstörung von Nordstream 2 durch den Imperator nur ein dummes Lächeln aufsetzt?

***

Machiavelli meint, dass zum politischen Erfolg zwei Voraussetzungen nötig sind: "virtu" und "fortuna" (4). Nicht immer aber treffen beide zusammen: ... glaube ich, dass DER Glück hat, welcher mit seiner Art zu handeln in die Zeit passt, und ebenso DER Unglück, dessen Handlungsweise nicht zur Zeit stimmt (5).

Das heißt: ohne "fortuna" (6) können auch mit "virtu" begabte Persönlichkeiten nichts ausrichten, weil sie nicht an die Hebel der Macht kommen oder sich dort nicht halten.

Heutige Politologen drücken das anders aus und reden zum Beispiel von "Rekrutierungsmechanismen für Eliten". Damit meinen aber auch sie, dass nur Leute mit einer bestimmten "Art zu handeln" Zugang zur Macht finden, weil robuste Gegebenheiten im Machtgefüge des Staates, der Parteien und der Publizisitik diesen Zugang kanalisieren (7).

Jede Gesellschaft bringt "ihre" Politiker oder Staatsmänner hervor und diese wirken zurück auf die Gesellschaft. Im Westen entwickelt sich diese Wechselwirkung m. E. unerfreulich. Mit den Worten Macchivallis: wandert die "virtu" aus dem Westen ab?

***

Dennoch: Habt keine Angst vor der Zukunft!
Packt das Glück, wo immer es euch auf dem Planeten winkt!

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(1) Die Bundesregierung störte sich vor allem an den Kommissionsvorschlägen zur Sanktionsumgehung über Drittländer: Diese schadeten Deutschland als größter EU-Exportnation mehr als Russland, argumentierte vor allem das Kanzleramt... Zuletzt habe es sich angefühlt, als ob Deutschland das neue Ungarn sei, sagte jüngst ein EU-Beamter in Anspielung darauf, dass die Budapester Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban in der Vergangenheit immer wieder Entscheidungen für Russland-Sanktionen verzögert hatte. Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnete die Vorwürfe als "völligen Quatsch" und machte die Interessen der deutschen Wirtschaft geltend [ARD]

(2) Das Britische Kolonialreich kontrollierte 23,84 Prozent der Erdoberfläche, war damit das flächendeckendste Imperium der Geschichte und erreichte 1920 seine maximale Ausdehnung. - Agatha Christie war mit ihren Kriminalgeschichten auch eine hervorragend illustrierende Chronistin des Glanzes und des Verfalls des Imperiums. Ihre Figuren gehören meist der Oberschicht an, haben eine zuweilen dubiose Vergangenheit in Afrika oder Indien, gehen in Argentinien zur Jagd, speisen zu Weihnachten mit dem Governor auf einer Karibik-Insel oder bewohnen in England Schlösser mit aus aller Welt zusammengestohlenen Kunstschätzen - allmählich aber wird es ihnen zu teuer, die pompösen Herrensitze zu erhalten. Viele sind verstrickt in eine tödliche Konkurrenz um einst erworbenen Reichtum: oft geht es bei Agathas Morden um Erbschaften.

(3) Sachs bezieht sich auf Daten der Weltbank auf Basis von PPP

(4) Was Machiavelli mit "fortuna" meint, ist leicht verständlich. Seine "virtu" ist ein interessantes Konstrukt: M. versteht darunter die "gesammelten Energien" der Welt in einem Volk, die sich in der Güte seiner Institutionen und Sitten und in wirkungsvollen Eigenschaften seiner Führungskräfte ausweisen: Stärke, Klarheit, Entschlossenheit, Klugheit, Geschicklichkeit und Härte, die sich im Konfliktfall kompromisslos durchsetzt. Diese Energien wandern aufgrund des "Wechsels der Sitten" im Lauf der Geschichte von einem Volk zum anderen.

(5) Machiavelli, Niccolo, Der Fürst, Kapitel 25

(6) In einer derben Metapher meint Machiavelli, dass jungen, zupackenden Akteuren Fortuna geneigter sei. Einige Politiker, die mir dazu einfallen, hatten in der Tat einen fulminanten Start. Fortuna aber war ihnen nicht lange hold: J. F. Kennedy und im kleineren Format Jörg Haider, Sebastian Kurz. Auch Emmanuel Macron wird nicht als Präsident in Pension gehen. In Frankreich wartet schon die nächste junge Hoffnung: Jordan Bardella.

(7) Nicht "in die Zeit" passen in der EU zB Personen, denen ein souveränes Europa unter Einschluss von Russland wünschenswerter vorkommt als das transatlantische Vasallentum der EU. Solche Personen haben aufgrund der "Rekrutierungsmechanismen für Eliten" in der EU keine Chance auf maßgebliche Positionen in Politik und Publizistik.

Ergänzung 26. 06. 2024

Ein Freund übermittelt mir den Link zu einem Artikel mit dem Titel Lithium, um Europa zu würgen - In der Ukraine kämpft Russland um Rohstoffe [ntv]

Ohne den wirtschaftstrategischen Stellenwert dieses Leichtmetalls zu unterschätzen (neben US-Senator Lindsay Graham äußert auch CDU-Kiesewetter unverhohlen sein Begehren): weder Russland noch die NATO führen deshalb Krieg.

Beide Seiten haben schon jetzt Zugang zu Lithium in jeweils befreundeten Ländern: Die derzeit größten bekannten Lithium-Vorkommen befinden sich im südamerikanischen Lithium-Dreieck der Anden-Staaten Bolivien (Nr. 1 mit 21 Mio. t, Stand 2022), Argentinien, USA und Chile. Auch Australien, die Volksrepublik China und Simbabwe besitzen große Reserven [FINMENT]

Bei diesem Krieg geht es m. E. um sehr viel mehr: der "Westen", also das US-Imperium und seine Vasallen, wollen das größte und an Ressourcen reichste Land der Welt letzten Endes unterwerfen und / oder zerstückeln. "Dekolonisieren" (Casey Michel) heißt das offiziell, weil es edler klingt. Russland weiß, dass diese Ambition seine Staatlichkeit in Frage stellt und scheint entschlossen, sich mit ALLEN Mitteln dagegen zur Wehr zu setzen.

Statt den Krieg zu beenden und auf ein nachhaltiges Sicherheitsabkommen einzugehen, das Russland seit vielen Jahren vorschlägt (vgl. dazu Jeffrey D. Sachs), erhöht der "Westen" Tag für Tag seinen Einsatz und kann immer schwerer auf kalte Vernunft zurückschalten.

Das führende politische Personal im "Westen" ist im Vergleich zu früheren Exponenten m. E. zweit- und drittklassig, hat Russland unterschätzt und scheint immer noch zu glauben, den Krieg zu gewinnen, ohne selbst dabei heillosen Schaden zu nehmen.

Ergänzung 28. 06. 2024

Vor 24 Stunden war noch ein US-Hasser, Trump-Fan oder Verschwörungstheoretiker, wer Biden als dement bezeichnet hat. Jetzt weiß es die ganze Welt. Freund und Feind in Ost und West sind beunruhigt: dieser Mann ist Herr über das größte militärische Potential auf dem Planeten? - Gemach. Seine Truppe kommt mit oder ohne ihn im Schaufenster aus. Dass er aber überhaupt dort steht mit Trump als Alternative: was sagt das aus über die Selektionsmechanismen eines 330-Millionen-Staates?

Wie wird das Establishment Trumps Wahl verhindern? Es wird eine Lösung finden - mit dem senilen Frontmann oder mit einer frischen Charaktermaske und / oder mit Ungemach für Trump (1a).

Die Vasallen in der EU freilich gackern wie aufgescheuchte Hühner: "Trumps Äußerungen in der Debatte waren für Deutschland und Europa beunruhigend", sagte auch der Transatlantik-Beauftragte Link. "Seine außenpolitischen Äußerungen sind wirr und irritierend, etwa wenn er behauptet, er würde mit Putin den Ukraine-Krieg lösen, natürlich ohne dabei die Europäer zu erwähnen", sagte der FDP-Politiker der Zeitung Tagesspiegel [ARD]

Dass Vasallen zur Linie der USA nicht gefragt werden, kann sie doch nicht überraschen. Die USA - egal, ob unter republikanischer oder demokratischer Führung - scheren sich nicht um die Interessen der EU-Mitgliedstaaten. Und Russland? Nach dem Scheitern einer europäischen Lösung des Konflikts in der Ukraine (siehe das Geständnis von Merkel zu MINSK) hat Russland nicht das geringste Motiv, mit dem Schmiedel statt mit dem Schmied zu verhandeln. Die EU selbst hat sich zu dieser Rolle erniedrigt und sich damit aus dem Spiel genommen.

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(1a) Anmerkung 24. 7. 2024: Trump ist dem Attentat denkbar knapp entgangen. Biden ist aus dem Rennen. Hinter der frischen Charaktermaske ballt sich die maximale finanzielle, politische und mediale Unterstützung des Establishments. Bisherige, parteiübergreifende Einschätzungen haben Harris nur mediokre Qualitäten bescheinigt. Nun wird sie zum Star gemacht. Die US-Vasallen in Europa schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung.



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