Geschichtspolitik

12. 06. 2024

Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegnwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen ist.

LEOPOLD VON RANKE, Vorrede zu Geschichten der romanischen und germanischen Völker (1824)



Quellen und Ansichten

Diesen Ausspruch Rankes hat unser Geschichtsprofessor P. einmal zitiert und lächelnd in die Klasse gefragt: "Glaubt ihr, dass die Historiker zeigen, wie es eigentlich gewesen ist?"

Was für eine Frage... Erwartete P. etwa ein Nein? Sollten wir bezweifeln, was wir über Griechen, Römer, Kaiser, Päpste, Reformatoren und zahllose Kriege gehört hatten? Unser Streber brach die Irritation und zeigte auf. P. hob aufmunternd das Kinn und der Streber schmetterte ein stolzes "Ja!" in den Raum.

P. wiegte den Kopf und sah fragend umher. "Ist das so?" --- Vielleicht... "Wenn die Quellen zuverlässig sind" sagte ich. - P. nickte. "Richtig. Quellen sind oft spärlich, parteilich oder die Deutung eines Geschehens durch Zeitzeugen hängt von seinem Ausgang ab. Als Zeitzeugen kommen meist Sieger zu Wort. Hätte zum Beispiel Catilina Erfolg gehabt wie später sein Verbündeter Cäsar, wäre er dann auch als Oberschurke der Republik in die Geschichte eingegangen? Vermutlich nicht."

"Ranke will weder richten noch belehren, sondern sachlich bleiben" so oder so ähnlich fuhr P. fort. "Das ist redlich, aber beim besten Willen nicht durchzuhalten. Nicht allein wegen der Quellenlage. Der Historiker selbst bringt stets seine politische Prägung, seine Ansichten und Wertungen in die Auswahl und Darstellung des Geschehenen ein, bewusst oder unbewusst."

Demnach wird Geschichte immer wieder mit der Gegenwart akkomodiert. Ein krasser Wandel des Geschichtsbilds vollzieht sich auch in überraschend kurzer Zeit, aber nicht zwangsläufig überall in gleicher Weise:

Erinnerungskultur

Erinnerungskultur bezeichnet den Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte. Erinnerungskulturen sind die historisch und kulturell variablen Ausprägungen von kollektivem Gedächtnis [WIKIPEDIA]

Wie alles in der Welt unterliegt die Erinnerungskultur einem laufenden Wandel. Die Veränderung vollzieht sich in unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft oft ungleichzeitig. In einem mir vertrauten Dorf etwa hält die Prozession von der Kirche zum Friedhof zu Allerheiligen immer noch beim Kriegerdenkmal und die Musikkapelle spielt "Ich hatt´ einen Kameraden". In Wien hingegen gilt das Gedenken an die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs mittlerweile als unbehaglich bis dubios: Der Heldenplatz: Ein Ort zwischen historischer Belastung und Gedenken [DER STANDARD]

Im Wissen um die Vergesslichkeit und Wankelmütigkeit der Menschen waren und sind Potentaten daher seit je bestrebt, möglichst dauerhafte Memorabilien zu schaffen. Die Pyramiden oder das Taj Mahal wird auf absehbare Zeit kaum jemand sprengen. Vor Fanatikern freilich ist nichts sicher (1).

Dennoch: Mit mehr oder weniger Radikalität löschen die maßgeblichen politischen Kräfte unliebsam Gewordenes laufend aus dem Gedächtnis (2) und richten die Erinnerung am politisch Erwünschten aus. Straßennamen zum Beispiel lassen sich dem Zeitgeist vergleichsweise rasch anpassen.

a) In Österreich sollen Straßen, die nach Personen mit "NS-Verstrickung" benannt worden waren, umbenannt werden: Drei Jahre lang haben die Historiker an der Aufarbeitung der belasteten Straßennamen in Salzburg gearbeitet... Das Ergebnis: Der Beirat sieht bei 13 zum Teil prominenten Persönlichkeiten Handlungsbedarf, weil ihre Verstrickung in das NS-Regime als gravierend zu bewerten sei... Auf der Liste stehen etwa der Mitbegründer der Salzburger Festspiele, Heinrich Damisch, der Dirigent Herbert von Karajan, der Konstrukteur Ferdinand Porsche, Hitlers Lieblingsbildhauer Josef Thorak und der Schriftsteller Karl Heinrich Waggerl [DER STANDARD]

In der Ukraine weht der Zeitgeist aus einer anderen Richtung:

b) Im Zuge des Bürgerkriegs gegen die ostukrainischen Autonomisten hat das Putsch-Regime seit 2014 die russische Sprache verpönt, russisch-sprachige Medien verboten, russische Literatur aus den Lehrplänen getilgt, Denkmäler, die an Puschkin, an Katharina die Große (die Gründerin Odessas), an russische Feldherrn etc erinnert haben geschleift, eine eigene ukrainische Kirche geschaffen und Orte und Straßen massenweise umbenannt. Schon 2014 gab es 46 Denkmäler für Stepan Bandera [WIKIPEDIA]. Neben den Denkmälern wurden Hunderte Straßen [bpb] allein nach diesem NAZI-Kollaborateur benannt, der nachweislich an Massakern an Polen und Juden beteiligt war. Die ehemalige "Moskauer Allee" in Kiew heißt heute "Stepan-Bandera-Allee" [WSWS]. In der heutigen Ukraine ist politisch korrekt, was hierzulande und in Deutschland verboten ist und politisch und strafrechtlich verfolgt wird.

c) Wie sich die Erinnerungskultur des "Westens" zum Zweiten Weltkrieg wandelt lässt sich anhand der unterschiedlich ausgerichteten Feierlichkeiten zu Jahrestagen des D-Days nachvollziehen. Ursprünglich ohne Sowjetunion und Deutsche, dann mit Russen ohne Deutsche, später mit Russen und Deutschen, dann ohne Russen, aber mit Deutschen und jetzt statt der Russen mit Deutschen und der Ukraine [Frankfurter Rundschau]. Angesichts des nationbuildings in der Ukraine mit NAZI-Kollaborateuren als Nationalhelden ein bizarrer Wandel politisch instrumentierter Erinnungskultur um 180 Grad:

d) Noch 2011 hatte das zumindest in Deutschland ganz anders geklungen: Es war eine der sehr seltenen, sehr einmütigen Stunden im Hohen Hause. Bei der vereinbarten Debatte am Donnerstag, 30. Juni 2011, zum Gedenken an den 70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 waren sich die Redner aller Fraktionen einig: Die Erinnerung an den Überfall darf nicht in Vergessenheit geraten, Ähnliches muss zu allen Zeiten verhindert werden. Gleichzeitig würdigten die Abgeordneten die positiven Entwicklungen in den Beziehungen von Russland und Deutschland [webarchiv.bundestag.de].

Individuelle / familiäre Vergangenheitsbewältigung

Der Anwalt Wilfried Embacher über seine Großväter, deren Lebensgeschichten zeigen, wie Entnazifizierung auf Österreichisch (nicht) funktioniert hat [DER STANDARD].

Beide Großväter waren NSDAP-Mitglieder, aber dem Text nach nicht unmittelbar in Verbrechen verwickelt.

Der Autor konstatiert, dass das ursprüngliche Verbotsgesetz vom 8. 5. 1945 sich als praktisch schwer anwendbar erwiesen hat, weil es allein für die Zugehörigkeit zu nationalsozialistischen Organisationen schwerwiegende Strafen vorgesehen hatte. Seine Großväter seien Profiteure der Uneinigkeit und Kompromissfindung gewesen: Das Gesetz konnte aufgrund der hohen Anzahl Betroffener nicht in seiner ursprünglichen Absicht angewendet werden, daher wird auf eine Einzelfallprüfung verzichtet, und viele ehemalige Nationalsozialisten werden unabhängig von ihrer individuellen Verantwortung und ohne Beurteilung ihres Gesinnungswandels von der Anwendung des Verbotsgesetzes ausgenommen.

Hätte sich der Autor Gefängnis und anhaltendes Berufsverbot für seine Großväter gewünscht? War das vom Autor beklagte "kollektive Schweigen" über die Vergangenheit wirklich kollektiv? Wurde in keiner Familie darüber gesprochen? Hat es nur Unbelehrbare gegeben? Hat kein ehemaliger Nazi rückblickend eingestanden, verblendet gewesen zu sein? Kommt die Politik seit 1945 ohne Indoktrination und Opportunismus aus? Dient die mediale Konzentration der Abscheu auf Nazi-Gräuel nicht auch der Ablenkung von aktuellen Gräueltaten?

Mein Sohn, ich hab' dir die Stiefel
Und dies braune Hemd geschenkt:
Hätt ich gewußt, was ich heute weiß
Hätt ich lieber mich aufgehängt

Bert Brecht, Lied einer deutschen Mutter

Erst im Rückblick erscheint manches klarer.

Hochnäsige moralische Verdikte von Nachgeborenen, deren politische Urteilsfähigkeit und Moralität vom Schicksal (noch) nicht auf Belastbarkeit geprüft worden sind, halte ich für eine ekelhafte Begleiterscheinung der "Vergangenheitsbewältigung".

Parteien, die vom aktuellen Mainstream als "rechts" bis "rechtsextrem" oder gar "links- und rechtsextrem zugleich" (3) punziert und zuweilen als "Nachfolgeparteien" der NSDAP geächtet werden, treten für einen Verhandlungsfrieden mit Russland ein - ist das nicht ein merkwürdiges Phänomen?

Wer hat vernünftigere Lehren aus der jüngsten Vergangenheit gezogen - die Kriegsbereiten oder die Verhandlungsbereiten?

Natürlich nicht die 'Verhandlungsbereiten'! Das sind realitätsferne Appeasement-Politiker oder Autoritätsliebhaber! Begreif doch: Putin ist der neue Hitler! (4) Er will ganz Europa unter seine Knute bringen! Putins Russland muss besiegt und unterworfen werden!

Ja, ja, ich höre euch! Ich folge euch aber nicht.

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(1) Der "Islamische Staat" hat die Reste von Nimrud, Hatra und Palmyra gesprengt und im Antikenmuseum von Mosul mit dem Vorschlaghammer gewütet. Die Taliban haben die Buddha-Statuen von Bamiyan zerstört. Neu freilich sind solche Exzesse nicht: Hasserfüllte christliche Schlägertrupps, die antiken Statuen die Glieder abrissen, Bilder zerstörten und Gelehrte massakrierten - in ihrem Buch erzählt Catherine Nixey, mit welch religiösem Fanatismus die frühen Christen die antike Kultur zerstörten [Rezension zu: Catherine NIXEY, Heiliger Zorn]

(2) Das ist eine uralte Praxis: Es ist möglich, dass die mutmaßliche ägyptische Königin Nitokris am Ende der Epoche des Alten Reiches Opfer der Damnatio memoriae wurde. Im Alten Ägypten waren mit Sicherheit die Pharaonin Hatschepsut und der Pharao Echnaton sowie die weiteren mit der Amarna-Zeit in Verbindung stehenden Könige Semenchkare, Tutanchamun und Eje II. von dieser Art der Rache betroffen. Von ihnen sind daher nur wenige Abbildungen und (meist) keine Mumien erhalten und in den ägyptischen Königslisten werden ihre Namen nicht geführt [WIKIPEDIA]

(3) Friedrich Merz lehnt eine Zusammenarbeit mit dem BSW ab, Sahra Wagenknecht sei sowohl rechts- als auch linksextrem [welt.de]

(4) Im Rahmen des Gedenkens zum D-Day, der sich am 06. Juli vor 80 Jahren ereignete, war der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach Frankreich gereist. Bei einer Rede im französischen Parlament beschwor er am Freitag (07. Juni) die Einigkeit Europas - und verglich den russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Adolf Hitler [Frankfurter Rundschau].

Ergänzung 16. 06. 2024

Amerika steht nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine, sondern weil es in unserem strategischen Interesse ist [ORF]

stellt US-Vizepräsidentin Kamala Harris auf der "Friedenskonferenz" in der Schweiz fest.

Diese verfblüffende Aufrichtigkeit ("die Ukrainer sind uns eigentlich egal") könnte zum Nachdenken anregen:

Ist das "strategische Interesse" der USA nicht die Garantie für die endlose Fortsetzung eines Konflikts, der zwar den USA dient, militärisch, ökonomisch, politisch und humanitär aber allein zu Lasten der Europäer in West und Ost geführt wird?

US-treuen Agitatoren im EU-Qualitätsjournalismus liegen solche Fragen fern. Im Gegenteil. Mit Tremolo rufen sie zur Befreiung eines weiteren von Russland geknechteten Volkes auf:

Der Westen muss Armenien beim Weg aus der russischen Gefangenschaft unterstützen [STANDARD]

Da geht es offensichtlich um die Eröffnung einer zweiten Front im Rahmen des laufenden Stellvertreterkrieges der USA.



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