Gebetsmühle oder Strategie?

21. 05. 2024

Worin auch immer wir uns vertiefen, werden wir auf Widersprüche stoßen

Daniel Greenberger, US-amerikanischer Physiker



Wachsende Sorge...

Die Besorgnis im "Westen" nimmt zu, dass "Putin" den Krieg "gewinnt". - Drei Wörter in einem Satz unter Anführungszeichen? - Ja.

1) Weil der "Westen" trotz aller Gemeinsamkeiten ein heterogenes und fragiles Gebilde ist wie der "globale Süden"

2) Weil "Putin" eine geradezu peinlich simplifizierte Bezeichnung für den Kriegsgegner der NATO ist

3) Weil unklar ist, was "gewinnen" in diesem Krieg bedeutet.

Hinreichend klar ist jedenfalls: Die Ukraine kann ihre Kriegsziele in absehbarer Zeit nicht erreichen. Im Gegenteil. Dem ukrainischen Marionettenregime (1) gehen die Soldaten aus. In den Waffenlagern der NATO herrscht Ebbe: Granaten werden mühsam in Drittländern angekauft (tschechische Initiative) und Israel muss auch beliefert werden. Indessen rückt Russland unter Schonung der eigenen Kräfte langsam aber stetig vor.

Zum andern ist Russland bisher nicht in der Lage, die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen und das Regime auszutauschen.

... ohne neue Gedanken

Wie reagieren Analytiker, Politiker und Publizisten im Herrschaftsbereich der NATO auf diese Lage?

Sie beharren auf den Zielen, die sie vor zwei Jahren verkündet haben und fordern einander zu mehr Anstrengungen auf, weil Russland "Europa" (2) sonst spalten oder zerstören wird:

Die Ukraine muss die russischen Truppen vertreiben und alle Gebiete zurückgewinnen, die sie seit 2014 verloren hat; Russland muss gezwungen werden, Kriegsreparationen zu zahlen, um die Ukraine zu entschädigen; die tausenden Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach Russland deportiert wurden, müssen zurückkehren dürfen; und die zehntausenden mutmaßlichen Kriegsverbrechen, die von russischen Truppen begangen wurden, müssen verfolgt und bestraft werden... kann sich der Westen nicht mehr aus der Affäre ziehen. Statt die Ukraine davon abzuhalten, russische strategische und militärische Einrichtungen anzugreifen, sollte er solche Angriffe begrüßen... Sollte die Ukraine verlieren, würden die russischen Streitkräfte weiter nach Europa einmarschieren, um Wladimir Putins neozaristisches Ziel der Wiederherstellung des russischen Imperiums zu verwirklichen... sollte der Westen die Ukraine mit wirksamen Langstreckenwaffen wie ATACMS und Taurus-Raketen sowie einer starken Luftwaffe ausstatten, damit sie die Luftüberlegenheit erlangen kann... muss der Westen darüber nachdenken, wie er westliche Unternehmen bestraft, die weiterhin in Russland tätig sind und die russische Regierung mit Steuern und anderen Leistungen unterstützen. Eine vernünftige Idee wäre, sie zu Strafsteuern zu zwingen... Anders Åslund, Senior Fellow am Stockholm Free World Forum

"Wir müssen jetzt alle Kräfte bündeln, damit die Ukraine bestehen kann, damit die Ukrainerinnen und Ukrainer auch in Zukunft selbstbestimmt leben können", äußerte Baerbock. "Und damit Putins Truppen nicht bald vor unseren eigenen Grenzen stehen" [FAZ]

The conflict between Moscow and Kiev should end with the defeat and breakup of the Russian Federation, Estonia's Prime Minister Kaja Kallas has said. Kallas offered the suggestion on Saturday during a debate which was part of the 17th Lennart Meri Conference in the country's capital, Tallinn, dedicated to supporting Ukraine. "Russia's defeat is not a bad thing because then you know there could really be a change in society", the prime minister argued. She argued that the Russian Federation is comprised of many different nations and suggested that they should become separate states after the end of the conflict between Moscow and Kiev [Kaja Kallas]

Die Unnachgiebigkeit, die in solchen Äußerungen zum Ausdruck kommt, kann als Strategie-Treue gedeutet werden: Die Feldherrn und Feldherrinnen in der EU behalten trotz der aktuell desaströsen Lage der Ukraine ihr Endziel beharrlich im Auge - Russland ruinieren und zerschlagen.

Die verschärften Forderungen (3) des NATO-Experten, der Appell der famosen Frau Baerbock und die Vision der Feldherrin aus Estland vom zerstückelten Russland können aber auch von etwas anderem zeugen - von Realitätsverweigerung, gebetsmühlenartig wiederholt. Vom Endsieg hat die Nazi-Propaganda noch gefaselt, als die Rote Armee schon vor Berlin stand.

Theoretisch lässt sich die widersprüchliche Deutung der Durchhalteparolen von NATO-Politikern und Agitatoren nicht klären. Wenn nicht verhandelt wird, löst allein das Schlachtfeld diesen Widerspruch in die eine oder andere Richtung auf.

Die Beendigung des Konflikts durch eine dritte, eine souveräne europäische Lösung jenseits der Kategorien von Gewinnen und Verlieren ist außer Sicht: als Vasall der USA kann und wird die EU mit Russland nicht eigenständig verhandeln.

Washington und Brüssel bemühen sich vielmehr, ihr Narrativ international durchzusetzen und die Basis für das Herbeiführen einer "strategischen Niederlage" Russlands zu verbreitern.

NATO allein zuhaus?

Zur "hochrangig" geplanten Friedenskonferenz, die am 15. und 16. Juni in der Schweiz stattfinden soll, wurde Russland daher nicht eingeladen. Ziel ist, Russland international unter Druck zu setzen, die Forderungen der NATO anzunehmen: sich von der Krim und aus der Ostukraine zurückzuziehen, Reparationen zu zahlen und Putin und andere an ein Tribunal auszuliefern.

Eine solche Nachkriegsordnung scheint nur eine Minderheit der UNO-Staaten für realistisch zu halten.

Von 160 eingeladenen Staaten haben bisher über 50 zugesagt. Selbstverständlich haben die Organisatoren den "Führer der freien Welt" als wichtigsten Teilnehmer erwartet. Angesichts der Absagen der Präsidenten von Brasilien, Südafrika etc und der sich abzeichnenden mageren / nicht hochrangigen Beschickung dieser Veranstaltung kommt es vermutlich anders:

A Swiss-hosted conference on the Ukraine conflict, set for next month, is not on US President Joe Biden's event schedule, White House National Security Council spokesman John Kirby has told reporters [Irish Sun]

Selbstverschuldete Unmündigkeit

Aus den Wahlen zum Europa-Parlament werden EU-skeptische Parteien vielleicht gestärkt hervorgehen. Am Vasallen-Status der EU aber wird sich kaum etwas ändern.

Zur tief verankerten transatlantischen Entourage der USA in Politik und Publizistik gibt es EU-weit keine organisierte Gegen-Elite, die den Ausgang der EU aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit vollziehen könnte.

Am Beispiel der AfD etwa ist zu sehen, wie leicht es den Regierenden fällt, unerwünschte Konkurrenz (4) anhand enorm dramatisierter Angriffspunkte mithilfe von Verfassungsschutz, Medien und Justiz zu delegitimieren und kalt zu stellen.

Technokraten, die in Wirtschaft und Verwaltung tätig sind, hätten das Potential zu einer Elite, die die EU aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit führen könnte. Technokraten aber sind Opportunisten. So lange sie selbst mehr Vor- als Nachteile von der transatlantischen Ausrichtung der EU haben, werden sie keinen Wechsel ins Auge fassen.

Politische Führung ist auf dem Weg zur Souveränität nicht zu ersetzen. Starke politische Persönlichkeiten, die sich stand- und glaubhaft dafür engagieren, sehe ich nicht. Mittlerweile scheint so ein Engagement lebensgefährlich (Fico) (5). Krawallpolitiker mögen Wahlen gewinnen, sie selbst und ihr Anhang verfügen jedoch nicht über die breite, zähe Gestaltungskraft, die ein solches Vorhaben erfordert.

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(1) Das ist keine Polemik, sondern eine korrekte Bezeichnung. Der Staats- und Militärapparat der Ukraine wird von den USA und den EU-Staaten voll finanziert. Ohne laufende Zufuhr von Geld, Waffen und humanitären Hilfen kann das Regime keinen Tag überleben. Dennoch ist das System am Kippen. Selensky fordert täglich noch mehr Hilfe. Jüngst hat er benachbarte EU-Staaten aufgefordert, russische Raketen, die auf Ziele in der Ukraine abgefeuert werden, von ihrem Staatsgebiet aus abzuschießen. Es werden sich gewiss Juristen finden, die auch diese Hilfe nicht als Kriegsbeteiligung werten.

(2) Wozu schon wieder Anführungszeichen? Weil der europäische NATO-Appendix sich für "Europa" ausgibt, aber nur die EU ist: ein Vasall der USA ohne politische, ökonomische und kulturelle Souveränität.

(3) Mit einer saftigen "Strafsteuer" ließe sich etwa die Raiffeisenbank vermutlich zur Räson bringen.

(4) Die AfD gilt als "rechtsextremistisch". Extremistisch" ist eine politische, keine rechtliche Kategorie. Das politische Verständnis von "extremistisch" ändert sich mit den politischen Verhältnissen. Ehemalige NSDAP-Mitglieder etwa haben in Deutschland und Österreich bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts anstandslos hohe Funktionen in Regierungen, in der Justiz, in Verwaltung und Wirtschaft eingenommen. Die Bonner Republik leistete sich einen NSDAP-Kanzler (Kiesinger). Je weniger die echten Nazis wurden, umso mutiger traten Kämpfer gegen "Rechtsextreme" auf, zuweilen selbst "extremistisch". Aktuell gelten Kriegstreiber wie Roland Kiesewetter, Anton Hofreiter, Michael Roth und Frau Strack-Zimmermann in Deutschland nicht als "Extremisten", während Kritiker des geduldeten Asylmissbrauchs oder Befürworter eines Verhandlungsfriedens mit Russland zum Beobachtungsfall für den Verfassungsschutz erklärt werden. An FPÖ und AfD streift der anständige EU-Bürger nicht an. Die Neofaschistin Meloni und ihr Mussolini-Verein, die SS-Nostalgiker im Baltikum und die ASOW-Nazis in der Ukraine hingegen zählen zu den Guten, weil sie bombenfest zur NATO stehen.

(5) Auch der georgische Premieminister Irakli Kobakhidze fühlt sich bedroht:"The threat aired during a phone call with a European Commissioner was astonishing," he wrote. "In my conversation, the European Commissioner listed a number of measures Western politicians can take after [Georgia passes] the transparency law and, while listing these measures, [the Commissioner] said 'look what happened to Fico, you should be very careful.'" - In a statement published later Thursday night, Neighborhood and Enlargement Commissioner Olivér Várhelyi said his words had been "not just fully taken out of context but was also presented to the public in a way which could give rise to a complete misinterpretation of the originally intended aim of my phone call" [Politico]

Ergänzung, 26. 05. 2024

Ein Artikel der Historikerin Ruth Berger leuchtet die hoch gespielte Empörung aus, die im Vorfeld der EU-Wahlen das Gewissen der EU-Bürger erschüttern soll:

Horst Tappert hätte Maximilian Krah nicht gefeuert.


Ergänzung, 28. 05. 2024

Die Nato hat ihre Mitgliedstaaten aufgerufen, der Ukraine den Einsatz westlicher Waffen gegen Militärziele in Russland zu gestatten [Handelsblatt] - Macron und Scholz: Kiew soll russische Ziele angreifen dürfen [ORF]

Die NATO-Staaten "gestatten", Macron und Scholz erlauben: das ist korrekt formuliert. Das ukrainische Marionettenregime kann keine autonomen Entscheidungen treffen. Auch die Einstellung der Kampfhandlungen und die Aufnahme realitätsbezogener Verhandlungen entzieht sich seiner Kompetenz.

Das Regime setzt das Leben der Ukrainer für Interessen ein, die sie für die eigenen halten sollen. Gegen diese Rollenzuteilung regt sich zumindest bisher kein ernsthafter Widerstand. Die Flucht vor dem Wehrdienst ist dafür zu wenig.

Der Angriff auf das russische Atomraketen-Frühwarnsystem Armavir war der Ukraine ohne Geheiß und Mitwirkung der USA unmöglich: Nicht zuletzt derartige Ereignisse erklären das überlegte, aber nicht überschießende Vorgehen der USA (Strategie "Boiling the Frog") gegenüber Russland... [Oberst Markus Reisinger].

Überlegt und nicht überschießend? Geh. Wer die Strategie "Boiling the Frog" für realistisch hält ist fehlgeleitet: kein Frosch bleibt im langsam erhitzten Wasser und übersieht, dass er totgekocht wird. Er springt heraus. Im Klartext: dieser aufreizende US-Angriff bringt Europa bewusst an den Rand der Zerstörung.

Der Beginn der Kriege läßt sich nach Wunsch bestimmen, nicht aber ihr Ende merkt Macchiavelli in seiner "Geschichte von Florenz" an. Als Vasallen haben die Ukrainer die Kontrolle darüber mittels ihres Regimes an die USA / NATO abgegeben.



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