"Putin darf nicht gewinnen!" |
29. 03. 2024 ... dass die Welt in der wir leben, von uns nicht nur erkannt, sondern durch unseren Erkenntnisprozess auch fortwährend neu geschaffen wird Paul Feyerabend (1) Zwei Arten von Theorien
Kategorie 1
ad 1 Im Fall b) herrscht die Ansicht vor, dass die messbar gewordene Erderwärmung menschlichen Ursprungs ist. Gegenstimmen sind gegenwärtig in der Minderheit und geradezu verpönt. Die Ansichten zu a) und b) haben gemeinsam, dass sie sich auf eine objektiv angenommene Realität beziehen. Ob die Wissenschaft diese Realität nach und nach "entdeckt" oder ob eine direkte Kenntnis dieser Realität prinzipiell unmöglich ist ("Ding an sich") - darüber gehen die Meinungen auseinander. Skeptiker halten die Realität nur über Modelle für zugänglich - Modelle, die nebeneinander existieren, aus edlen, banalen oder niedrigen Motiven konkurrieren, einander ausschließen, mehr oder weniger Erklärungswert haben und sich laufend ändern. Zu Keplers Zeiten etwa zählte die Erstellung von Horoskopen zur Wissenschaft. Auch wenn Leute weiter an Horoskope glauben: als "wissenschaftlich" gilt die Astrologie nicht mehr (3). Der subjektive Anteil
ad 2 Gewiss sind auch Theorien zu den Ursachen der Erderwärmung von Wunschdenken, Opportunität, Eitelkeit, Karriereabsichten etc mitbestimmt. Unter Naturwissenschaftern aber muss jede Theorie in zivilisierter Art diskutierbar sein, muss logischen Anforderungen genügen und sich ausgeklügelten Verifizierungs- oder Falsifizierungsprozessen stellen. Bei Theorien der Kategorie 2 spielen solche Prozesse fast keine Rolle: völlig subjektive Urteile sind in phantastischer Bandbreite möglich. Hier trifft Feyerabends polemische Formulierung "anything goes" ins Schwarze. Die jeweiligen Eliten wirken dieser Anarchie entgegen: vorgedachte Narrative offiziöser Experten und politischer Funktionsträger werden über Medien gestreut. Zur breiten Etablierung erwünschter Ansichten dient eine emotionsgeladene Propaganda. Sie schweißt die "community" zusammen und erzeugt in ihr die Illusion, dass die forcierte Ansicht die einzig richtige sei. Irrig ist der Andersdenkende. Einander widersprechende Theorien der Kategorie 2 sind von politisch intendierten und praktizierten Veränderungsprozessen in der menschlichen Welt nicht zu trennen. Sie begleiten reale Auseinandersetzungen nicht, sondern sind Instrumente des Konflikts und von Agitation oft schwer zu unterscheiden. Werden widersprüchliche Sichtweisen außerhalb von Verhandlungen geäußert, bleiben sie meist im Widerspruch stecken. Die theoretische Auflösung von Widersprüchen verharrt im Wunschdenken. Diskussionen hingegen, die im Rahmen von Verhandlungen stattfinden, haben das Potential, Lösungen zu erfinden, die das antagonistische Verhalten insgesamt beenden. Erfolgreiche Lohnverhandlungen zB befrieden einen Konflikt. Kriegsparteien könnten aus Lohnverhandlungen lernen. Tun sie aber nicht. Sie reden nicht miteinander, solange sie auf die ungebrochene Durchsetzung ihrer Ziele hoffen. Auch die Analyse und Kritik von Positionen der Antagonisten ist ohne Parteilichkeit kaum leistbar. Niemand kann seine eigenen Einstellungen dabei ausblenden. Man kann sich und anderen die eigene Perspektive nur so gut wie möglich deutlich machen. Im Rahmen einer Kritik der aktuellen Version des offiziösen Ukraine-Narrativs will ich das versuchen. "Putin darf nicht gewinnen" Angesichts der unübersehbar gewordenen Erfolge Russlands an der Front geben EU-Politiker und Publizisten die apodiktische Losung aus: "Putin darf nicht gewinnen". Andernfalls sei die Demokratie und Freiheit in ganz Europa in Gefahr. "Putin" will die Sowjetunion wieder errichten und "Putins Russland" nähert sich mit Riesenschritten einem neuen Stalinismus (Rauscher). Bei einer Niederlage der Ukraine wird er "seinen" Krieg gegen die Demokratie und Freiheit ausweiten und womöglich als nächstes Ziel das Baltikum angreifen. Wie passt das zusammen mit der gleichzeitig erhobenen Behauptung, "Putin" sei mit seinem Vorhaben militärisch und politisch gescheitert? Gar nicht. Logik aber spielt bei Narrativen der Kategorie 2 eine unbedeutende Rolle im Vergleich zu Emotionen. Die drücken sich aus in verächtlichen Bezeichnungen und Beschimpfungen: Putin ist kein Präsident, sondern Machthaber (der Ausdruck suggeriert, dass er seine Funktion illegal ausübt), Autokrat, Despot, Kriegsverbrecher, "Schlächter" und "Sohn einer Hure" (O-Ton Biden). Berühmte Psychologen wie Otto Habsburg, Karl Schwarzenberg und Joe Biden haben im Unterschied zu verblendeten Putin-Verstehern schon früh erkannt: Putin ist ein gefährlicher Dämon ohne Seele (Reuters). "Haben Sie alle den Verstand verloren?" Diese Frage Sarah Wagenknechts im Deutschen Bundestag an die Adresse der Ampel-Regierung und an die CDU-Opposition im Zusammenhang mit der Taurus-Affäre gefällt mir als Überschrift für meine Position (4) zum oa Narrativ. Ich kritisiere das Narrativ der EU-Politiker zum Ukraine-Krieg aus der Position eines Europäers, der Russland zu Europa zählt und die Unterwerfung der EU in ihrer Außen- und Wirtschaftspolitik unter die geopolitischen Ziele der USA im Rahmen der NATO für europafeindlich hält. 1. Ablenkende Personalisierung Wenn nur Putin nicht wäre! Der Krieg ist sein ganz persönliches Werk! - Diese phantastische Erklärung nach dem Muster des "Herrn der Ringe" verfälscht einen vielfach belegbaren geopolitischen Antagonismus zum einseitigen Privatunternehmen eines Soziopathen. 1962 wollte die Sowjetunion auf Kuba Raketenstellungen errichten. Die Berater Kennedys rieten zu einem atomaren Präventivschlag. Kennedy und Chruschtschow hingegen schlossen einen Deal: die Sowjetunion nahm von ihrem Vorhaben Abstand und die USA zogen ihre Mittelstrecken aus der Türkei ab. Letzteres blieb zunächst geheim. Die Falken in den USA haben Kennedy das nicht verziehen. Ein Jahr später war er tot. Analogie: Hätte Russland nach dem Putsch 2014 die Krim nicht annektiert, wäre der nächste Schritt der USA wohl die Errichtung eines Flottenstützpunkt in Sewastopol gewesen. Putin wäre vermutlich von einem Chauvinisten wie Nawalny (5) abgelöst worden - Nationalisten kritisieren Putin (BR 24) seit eh und je - und der Dritte Weltkrieg stünde nicht erst bevor. Dass die Ukraine zum Aufmarschgebiet der NATO gemacht werden kann, ohne dass Russland sich dagegen wehrt, haben Politiker wie Henry Kissinger nie angenommen. Zweit- und drittklassige Akteure haben es dennoch versucht, halten daran fest und spielen unbedarft mit der Verwüstung Europas. 2. Absurde Friedensbedingungen Der "Westen" steht nach wie vor hinter Selenskis "Friedensformel". Diese Formel sieht unter anderem vor, dass Russland sich aus der Krim und der Ostukraine zurückzieht, Putin vor ein Tribunal kommt und Russland Reparationen zahlt (NZZ). Da Russland von einer Kapitulation sehr viel weiter entfernt scheint als die Ukraine geht der Krieg unter diesen Voraussetzungen natürlich weiter. Damit nehmen die Kosten für den Frieden Tag für Tag zu: für die Ukrainer, für Russland und für das übrige Europa.
Die Falken in EU und NATO haben es abgelehnt, den Konflikt unter viel günstigeren Bedingungen für alle Beteiligten ruhig zu stellen. Selbst nach dem kalkulierten Scheitern der Vereinbarungen von MINSK, nach der Verweigerung von Verhandlungen über ein Sicherheitssystem in Europa seitens der NATO und nach dem Einmarsch Russlands hätte Russland sich mit der Neutralisierung der Ukraine und der Föderalisierung der Ostukraine begnügt. Die Propagandisten des Westens genieren sich allerdings nicht, diese belegbaren Fakten als "Desinformation" zu ächten. Vgl dazu die detaillierte Rekonstruktion durch Hajo Funke und Harald Kujat. 3. Die Gefahr für die Demokratie und Sicherheit in Europa sehe ich nicht in der Bereitschaft zu realitätsbezogenen Friedensverhandlungen, zur Bereitschaft, ein vertragliches europäischen Sicherheitssystem zu entwickeln und in der Bereitschaft der EU-Staaten zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland. Viel mehr Gefahr für die Demokratie und Sicherheit in Europa sehe ich in der Ächtung der Friedenswilligen und in der Fortführung des Krieges: er stärkt die Hardliner (6) auf beiden Seiten, verschärft die sozialen und nationalen Spannungen in Europa und sein Eskalationspotential reicht bis zur Unbewohnbarkeit Europas. _______________________________ Mir ist klar, dass meine Sicht der Dinge nicht die geringste Wirkung im Verhältnis zum forcierten Narrativ der NATO hat. Aber warum sollte ich meine Ansicht deshalb ändern? _______________________________ (5) 30. 03. 2024: "Wieso Nawalny? Der passt doch gar nicht in diesen Zusammenhang!" - kritisiert ein Leser mündlich. - Doch, doch, habe ich geantwortet: Nawalny hat die Annexion der Krim damals begrüßt. Hätte Putin nicht so gehandelt, hätte Nawalny ihn gewiss attackiert. Damals war er noch nicht der gewandelte Saulus und Märtyrer der "liberalen Demokratie", sondern ein rassistischer Nationalist [Wiener Zeitung]. (6) Auf russischer Seite gibt es militante Scharfmacher wie Medwedew. In Deutschland ruft der Historiker Heinrich August Winkler die SPD auf zur Aufarbeitung der Fehler ihrer Russland-Politik der vergangenen Jahrzehnte. "Vielmehr wird die Tradition der Außenpolitik Egon Bahrs nach wie vor unkritisch und romantisierend als Markenzeichen der SPD hochgehalten." Auf diese Weise mache sich die SPD unglaubwürdig und angreifbar (ARD). Die Ostpolitik von Bahr und Brandt hat Europa Entspannung verschafft, die deutsche Einheit ermöglicht, zum Bankrott der Sowjetunion beigetragen und das Fenster zu einem Europa von Lissabon bis Wladiwostok geöffnet. Kohl und Gorbatschow haben daraus gewunken. - Weg mit diesen Sentimentalitäten! - Geht es weiter so, wird statt der Ostpolitik Bahrs das "Unternehmen Barbarossa" rehabilitiert werden. |
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