Europa verändern |
29. 12. 2023 Gewaltbegleitete Veränderung Die Vorstellungen von Europa und die damit verbundenen politischen Konzepte waren und sind recht unterschiedlich. Im Augenblick verläuft die Grenze Europas aus Sicht der EU unfreiwillig im Osten der Ukraine. Kontinental-Europäer in West und Ost haben immer wieder Konzepte verfolgt, die Russland zumindest bis zum Ural oder darüber hinaus eingeschlossen haben. 1) Napoleon und Hitler wollten Russland zu diesem Zweck erobern. Unter dem Code civil Napoleons freilich hätten die Völker Europas wohl ungleich lieber gelebt als unter dem wahnhaft-rassistischen Regime Nazideutschlands: Der Kampf um die Hegemonie in der Welt wird in Europa durch den Besitz des russischen Raums entschieden; er macht Europa zum blockadefestesten Ort der Welt... Der Slave ist eine geborene Sklaven-Masse, die nach dem Herrn schreit... Der russische Raum ist unser Indien, und wie die Engländer es mit einer Handvoll Menschen beherrschen, so werden wir diesen unseren Kolonialraum regieren... Wir haben 1918 die baltischen Länder und die Ukraine geschaffen. Wir haben aber heute kein Interesse an dem Fortbestand der ostbaltischen Staaten und an einer freien Ukraine... Ich bin auch nicht für eine Universität in Kiew. Wir bringen ihnen das Lesen besser nicht bei... Wir werden ein Getreide-Exportland sein für alle in Europa, die auf Getreide angewiesen sind. In der Krim haben wir Südfrüchte, Gummipflanzen... Baumwolle... Den Ukrainern liefern wir Kopftücher, Glasketten als Schmuck und was sonst Kolonialvölkern gefällt. Unsere Deutschen - das ist die Hauptsache - müssen eine festungsartig in sich geschlossene Gemeinschaft bilden, - der letzte Pferdebursche muss höher stehen als einer der Eingeborenen außerhalb dieser Zentren (1) Spaltung statt Eroberung 2) Die erklärten Ziele der angelsächsischen NATO-Herren und ihrer kontinentaleuropäischen Vasallen gegenüber Russland sind: Russland "einzudämmen" und zu "isolieren", "Putin" eine "strategische Niederlage" zuzufügen, die Wirtschaft Russlands durch Sanktionen zu "ruinieren" und das größte, rohstoffreiche Land der Erde zu "entkolonisieren", dh in möglichst viele handhabbare Einzelstaaten zu zerstückeln. Dass diese Spielart der Unterwerfung ohne Krieg funktioniert, hat sich als unrealistisch erwiesen. 3) Im Kontrast dazu schwebte "Gaullisten" und Wirtschaftstreibenden in Kontinental-Europa die gewaltfreie Entwicklung eines Wirtschaftsraumes von Lissabon bis Wladiwostok vor als Mittel zu einer allmählichen Integration eines großen, eigenständigen Europas. Großbritannien und die USA haben die Realisierung dieser Vision seit je hintertrieben. Der transatlantische Narrator Hans Rauscher verfälscht und diffamiert im STANDARD diese Vision zu einem heimtückischen, imperialistischen Konzept Putins.
Mittlerweile ist allerdings völlig egal, ob man diese Vision befürwortet, problematisiert oder ablehnt. Sie hat sich auch gegen Widerstrebende auf Sicht (2) als Illusion entpuppt Die "Ruinierung" Russlands freilich lässt auf sich warten. Im Vertrauen darauf hat die EU ihre Beziehungen zu Russland gekappt. Die Kluft ist so tief und unwegsam, wie sie es selbst zu Zeiten der Sowjetunion nie gewesen ist. Das stellt Russland und die EU-Staaten vor eine völlig neue Situation. Kommt Russland damit besser zurecht? Russland hat seine Öl-Exporte ohne Ertragseinbußen nach Indien und China umgelenkt und umgeht Sanktionen erfolgreich auch bei Importen. Russlands Wirtschaft wächst trotz des Krieges vergleichsweise kräftig. Politisch ist Russland außerhalb des Westens nicht isoliert. Militärisch ist es auf dem Vormarsch. Die Eurozone hingegen weist 2023 ein mattes Wachstum aus (0,6%). Deutschland muss ein Minus von 0,3% hinnehmen. Für 2024 ist der Ausblick nicht viel besser. In welchem Ausmaß, zu welchen Kosten und politischen Bedingungen für die EU ist Russland als Exporteur und Absatzmarkt kompensierbar? In der Politik ist ein eigenständiges Agieren der EU gegenüber China oder dem Nahen Osten nicht erkenntlich. Die EU spielt keine Rolle im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern - im Unterschied etwa zum kleinen neutralen Österreich zu Zeiten Kreiskys, der von US-Präsident Nixon as part of his preparations for the beginning of his Middle East tour kontaktiert wurde.
Sind das alles nur vorübergehende Anpassungsprobleme? Oder läuft die Entwicklung auf eine nachhaltige ökonomische und politische Schwächung der EU im Verhältnis zu anderen Volkswirtschaften und Verbänden (USA, China, BRICS...) hinaus?
Wie geht es weiter mit der Ukraine?
Es ist noch nicht klar, ob der Konflikt im Senat und im Repräsentantenhaus der USA um zusätzliche Mittel für die Ukraine im Gegenzug zur Finanzierung von Vorkehrungen zur Grenzsicherung nur ein taktisches Geplänkel ist oder einen Strategiewechsel der USA im Krieg gegen Russland signalisiert.
Die USA könnten sich zumindest vorläufig ohne Nachteile für sich selbst mit dem aktuellen Status begnügen: Russland bleibt ausgesperrt aus Europa. Die EU winselt bei Fuß.
Diesfalls muss die EU entweder
Was davon ist am unwahrscheinlichsten? Richtig. Die Variante 3.
Variante 1 ist nach Aussage des EU-Vizepräsidenten Borell unmöglich, eine Meinung, die aktuell auch in Deutschland betont wird.
Bleibt Variante 2. Die kann unterschiedlich ausfallen. Die USA und die EU werden gewiss versuchen, den Bankrott der Ukraine zu verhindern. Dazu werden sie vermutlich auf einen Wechsel der Führung, auf einen Waffenstillstand und auf das Einfrieren des Konflikts drängen.
Ob Russland sich auf dieses Zeitschinden einlässt oder nicht ist eine Frage seiner militärischen Stärke. Im Augenblick sieht es nicht danach aus, als müsste Russland dringend Atem holen. Bleibt das so, wird Russland nur über ein Sicherheitssystem verhandeln wollen und sich nicht erneut hinhalten lassen.
Nicht völlig auszuschließen ist, dass die NATO den Krieg gegen jede Vernunft eskaliert und im äußersten Fall direkt eingreift. Kiew wünscht sich nichts sehnlicher und kann jederzeit einen Vorwand für den erforderlichen "Bündnisfall" liefern, wie der Beschuss Polens mit einer angeblich russischen Rakete im Vorjahr lehrt. Dann "Gute Nacht, Europa!"
Innere Veränderung
Europa verändert sich aber auch aus sich selbst heraus - demographisch und kulturell.
Weniger Kinder und mehr "Selbstverwirklichung" lassen die autochthone Bevölkerung Europas seit Jahrzehnten schrumpfen. In Verbindung mit kürzerer Wochen- und Lebensarbeitszeit zugunsten längerer Schulzeit und zunehmender Freizeit (3) erzeugt dieser kulturelle Wandel einen chronischen Arbeitskräftmangel: die Produktivität hält mit dem Hedonismus offenbar nicht Schritt. Näheres dazu hier.
Der Mangel an Arbeitskräften wird anhaltend beklagt, obwohl die Wirtschaft schwächelt und die ungesteuerte Einwanderung aus dem Nahen Osten und aus Afrika das Schrumpfen der traditionell geprägten Bevölkerungsmehrheit in den höchst entwickelten EU-Staaten überkompensiert.
Paradox? Ja, aber nicht unerklärbar.
Viele Zuwanderer kommen nicht nach Deutschland, Österreich etc weil es in ihren Herkunftsländern keine Herausforderung zur Verbesserung der Lebensqualität gäbe. Sie vermuten vielmehr zu Recht, dass das Leben in den reichen EU-Staaten wesentlich angenehmer ist. Zugleich bringen sie Vorstellungen über das Verhältnis der Geschlechter, über Arbeit, Religion, Gewalt und Politik mit, die zum Teil beträchtlich von den rechtlich und kulturell normierten Vorstellungen der Europäer abweichen.
Wohin das längerfristig führt ist seriös schwer abzuschätzen. Reicht die Kraft und der politische Wille in den EU-Staaten, diese Völkerwanderung zu steuern und in die Bahnen europäischer Kultur zu lenken oder ist der point of no return zu einem substantiellen kulturellen Wandel schon überschritten?
Die europäisch geprägten USA stehen vor einem ähnlichen Problem. Immer wieder strömen Karawanen aus Lateinamerika auf die US-Grenze zu. Bilder vermitteln den Eindruck, dass darunter viele Indigene sind. Für diese wäre die Einwanderung eine Art friedlicher Rückeroberung.
"Change"
Das Wort "change" hat vor allem in der angelsächsischen Kultur einen sehr positiven Hof. Diese Konnotation kommt wohl daher, dass der stürmische Wandel in der Welt seit der Inbesitznahme Amerikas, seit der Eroberung anderer Kolonien in allen Erdteilen und seit Beginn der Industrialisierung den Reichtum europäischer Länder ständig und gewaltig vermehrt hat.
Nach oft heftigen sozialen Auseinandersetzungen hat ein Teil dieses Reichtums auch den Wohlstand und die Lebensqualität breiter Schichten in der europäischen Zivilisation verbessert. Politiker versprechen daher nach wie vor gern "change".
Die Veränderungen in der Welt seit dem Auslaufen der Kolonialzeit und der Aufstieg anderer Mächte haben die Bedeutung Europas verringert und die Macht der USA relativiert. Auf das gute Leben ihrer Bürger haben sich diese Prozesse bisher nicht massiv ausgewirkt.
Ob das so bleibt, ist fraglich und abhängig von der Politik der europäisch geprägten Länder. Im Zusammenhang mit der ungesteuerten Migration, den Kosten des Krieges in der Ukraine, den Kosten eines EU-Mitglieds Ukraine, den Kosten der "Energiewende" und den puritanischen Verzichtforderungen für den "Klimaschutz" gewinnt "change" zumindest für einen Teil der Bevölkerung schon einen negativen Beigeschmack.
Ergänzung, 30. Dezember 2023
Ein Freund, mit dem ich öfter die Klinge kreuze, schreibt:
Guter Bericht, aber leider sehr einseitig, der Westen (USA und GB) sind an allem Schuld (ich übertreibe!) und Russland ist das Opfer! Ist diese Sichtweise bei dir in Stein gemeißelt?? - Guten Rutsch und auf neue Diskussionen in 2024, die ich nicht missen möchte
Ich habe soeben zurückgeschrieben:
Die US-Administration handelt entlang ihrer Interpretation von US-Interessen. Dagegen ist von einem realistischen politischen Standpunkt grundsätzlich nichts einzuwenden. Es gibt freilich renommierte Amerikaner, die diese Interessen ganz anders interpretieren (J. Sachs zB) und den Kurs der USA in der Ukraine, im Nahen Osten für fatal halten. Meine Kritik konzentriert sich daher gar nicht in erster Linie auf die USA, sondern auf eine EU, die ich mittlerweile in vieler Hinsicht erbärmlich finde.
_______________________________ (2) Vor über einem Jahr habe ich auf Aufforderung eines politisch aktiven Freundes einen Diskussionsinput für ein Manifest ("Allianz für Europa") entworfen. Liegt die Idee auf Eis und wird in diesem oder jenem Zirkel weiter gepflegt oder ist sie tot? (3) 1971 hatten 57,8% der 25 bis 64-Jährigen einen Pflichtschulabschluss und 2,8% einen Tertiärabschluss. Weite Bevölkerungsteile haben in den letzten Jahrzehnten eine höhere Schule abgeschlossen, sodass der Anteil der Personen mit Lehr-, AHS-, BMS- oder BHS-Abschluss unter den 25 bis 64-Jährigen bis 2012 auf rund zwei Drittel angestiegen ist. Der Anteil der Personen mit Universitäts-, Fachhochschul-, Akademie- oder Kollegabschluss ist seit 1971 um das siebenfache angestiegen, während die Pflichtschulabsolventen um etwa drei Viertel weniger geworden sind [STATISTIK AUSTRIA] - 1959 wurde in Österreich die 45 Stundenwoche eingeführt. Heute sehen viele Kollektivverträge eine Normalarbeitszeit von 38, 5 Wochenstunden vor. Die Teilzeitquote der Frauen lag 2022 bei 50,7 Prozent; Männer waren zu 12,6 Prozent teilzeitbeschäftigt. - 1964 führte ein Generalkollektivertrag den dreiwöchigen Mindesturlaub für alle ein. Seit 1983 beträgt der Mindesturlaub fünf Wochen, nach 25 Arbeitsjahren sechs Wochen. - Seit der vorzeitige Ausstieg aus dem Beschäftigungssystem als fatale arbeitsmarktpolitische Maßnahme eingeführt wurde (Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts) wird das Regelpensionsalter von 65 trotz der Ansätze zur Gegensteuerung immer noch unterschritten. - Eine neue kulturelle Arbeitslosigkeit wird zur Herausforderung für Wohlstand und Zusammenhalt... Immer mehr Menschen nutzen die Arbeitslosenversicherung nicht mehr als solidarisches Sicherheitsnetz, sondern als persönlichen Pausenraum zwischen Episoden von Beschäftigung oder auch als Warteraum vor der Pension diagnostiziert der Leiter des AMS Gänserndorf, Georg Grund-Groiss, in einem Gastkommentar im STANDARD. |
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