Von Illusion zu Illusion

10. 09. 2023

Eine Illusion ist eine Erfahrung,
die man so lange für gültig hält, bis sie
durch andere Erfahrungen entkräftet wird... Wir
wissen nie, ob uns unsere heutige Wahrnehmung
nicht schon morgen als Illusion erscheint. Eventuell
bleibt sie jedoch auch unser gesamtes Leben gültig.

Humberto Maturana



Der naive Realismus ("meine Wahrnehmung ist allgemeingültig / objektiv wahr") spielt keine Rolle in der Erkenntnistheorie (1).

In der Praxis des täglichen Lebens, in der Politik, aber auch in der Wissenschaft und Philosophie selbst schleicht sich diese Naivität jedoch immer wieder ein: meist mangels Reflexion, oft aber auch als Normierung einer bestimmten Perspektive oder eines bestimmten Erkenntnisstandes.

Eine Perspektive / einen Erkenntnisstand normieren heißt: Zweifel oder abweichende Ansichten als lächerlich oder als unwahr bis gefährlich einstufen. Der oder die Betreiber des Normprozesses müssen über Prestige, Macht und Mittel verfügen, um ihre Ansichten in der jeweiligen Community durchzusetzen.

Auch die aktuelle Europa-Idee der politischen Klasse in Westeuropa erfordert(e) einen massiven, medial unterstützten Normprozess. Europa-Ideen haben eine lange, abwechslungsreiche Vorgeschichte. Sie weisen aber auch einen dunklen Strang an Kontinuität auf: Krieg um die Vorherrschaft.

Die Vorstellung, dass die EU die friedliche Integrationspolitik der EWG durch ökonomische Vernetzung vom Atlantik bis zum arktischen Ozean fortsetzen würde hat sich seit dem NATO-Krieg in Jugoslawien als Illusion erwiesen. Spätestens jetzt kann diese Idee auf dem Müll der Geschichte entsorgt werden.

Auf Selbsterlebtes zurückblickend unterscheide ich vier Vorstellungen, die der Westen Europas von sich selbst und im Verhältnis zu Russland seit 1945 phasenweise vorherrschend eingenommen hat. Ich maße mir keine Geschichtsschreibung an. Ich halte nur fest, wie ich europapolitische Strömungen als Jugendlicher, als Erwachsener und als alter Mann von Österreich aus wahrgenommen habe / wahrnehme.

Die Ausgangslage

Unmittelbar nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion, noch im Juni 1941, drängte Stalin Churchill zur Eröffnung einer zweiten Front im Westen (2). Die westlichen Alliierten ließen sich damit drei Jahre Zeit, bis zum 6. Juni 1944. Da hatte die Sowjetunion unter großen Opfern schon die Krim und die Ukraine zurückerobert (3) und bereitete die Operation Bagration vor. Diese führte zum vollständigen Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte und gilt als verlustreichste Niederlage der deutschen Militärgeschichte (4).

Die zwei mächtigsten Staaten der Anti-Hitler-Koalition, die USA und die Sowjetunion, haben aufgrund dieses recht einseitigen Kriegsverlaufs den Sieg über Nazi-Deutschland unter sehr unterschiedlichen Kosten und Verlusten errungen:

USA: 418.500 Tote; Sowjetunion: 24 Millionen Tote [Statista] und ein von der Wehrmacht verwüstetes Land.

1) NAZI-Nachklang

Politische Ereignisse und Umstände habe ich seit Beginn der 50ger Jahre mitbekommen. Mein Vater war Journalist. Bei Radio-Nachrichten durfte kein Wort gesprochen werden.

Die USA traten als großherzige Befreier auf: als Kreditgeber ("Marshall-Plan"), als Mäzen für Stipendiaten, die eine Karriere in der Politik, in Medien und in der Wissenschaft anstrebten und als Vorbild im Lifestyle.

Aufgrund ihres menschlichen und materiellen Aderlasses im rassistischen Vernichtungskrieg der Nazis konnte die Sowjetunion eine solche Rolle nicht im entferntesten einnehmen. Dazu kamen politische und ökonomische Friktionen aus dem damals noch aufrechten Sozialismus-Projekt.

Nach der Beseitigung des Hitler-Regimes entfremdeten die westlichen Alliierten und die Sowjetunion sich rasch. Westlich der Oder-Neisse-Linie galt das Konzept "Europa gemeinsam mit den USA gegen den Bolschewismus". Religiös verbrämt predigten das damals auch Pfarrer von den Kanzeln.

Damit konnten sich ehemalige Nationalsozialisten unschwer identifizieren, entsprach diese Ausrichtung der Europapolitik doch wesentlichen Elementen nationalsozialistischer Europa-Pläne ("Hilfsvölker" bei der Eroberung des Ostens). Die Führungsrolle war allerdings von Deutschland auf die USA übergegangen. Die Regierungen der Bundesrepublik verbanden mit dieser Europa-Orientierung das Ziel, Gebietsverluste im Osten rückgängig zu machen (= "Revanchismus" im Sprachgebrauch der Sowjetunion).

Ehemalige Nationalsozialisten waren in Deutschland und Österreich bis in die achtziger Jahre in Verwaltung, Justiz, Kultur, Medien und Politik führend tätig. Deutschland hatte einen Kanzler, der NSDAP-Mitglied gewesen war (Kiesinger). Nationalsozialistische Verbrechen wurden gerichtlich lange nicht oder nur lahm geahndet. Noch 1963 wurde der NAZI-Verbrecher Franz Murer unter öffentlichem Jubel freigesprochen. (5)

Die USA hatten mit nützlichen Nazis auch kein Problem. SS-Sturmbannführer, V 2-Entwickler und Zwangsarbeiterchef Wernher von Braun überzeugte als Direktor der NASA Kennedy vom Mondlandeprojekt und erreichte dieses Ziel 1969. Die Sowjetunion hatte 1957 den ersten Satelliten (Sputnik) in eine Umlaufbahn gebracht. Er war in klaren Nächten von der Erde aus zu sehen. 1961 umrundete Juri Gagarin als erster Mensch mit einem Raumschiff ("Wostok 1") die Erde.

2. Neue Deutsche Ostpolitik

Die Nationalsozialisten in maßgeblichen Positionen wurden aus rein biologischen Gründen weniger. Die angestrebten Grenzrevisionen im Rahmen des westlichen Bündnisses erwiesen sich als Illusion. Die Regierung Brandt begann, politische Realitäten zu akzeptieren. 27 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands anerkannte der Deutsche Bundestag am 17. Mai 1972 die Oder-Neisse-Linie als Grenze. Die CDU/CSU enthielt sich allerdings der Stimme.

Der Kniefall Willy Brandts in Warschau gilt als symbolisch für die Neue Ostpolitik, entworfen von Egon Bahr mit dem Ziel, im Umgang mit der DDR, Russland und anderen Ostblockstaaten einen "Wandel durch Annäherung" zu erreichen.

Die vom Ostblock geforderte Europäische Sicherheitskonferenz wurde installiert, ein Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet und ein Kurswechsel zur Abrüstungspolitik durchgeführt.

Halbherzig, wie sich bald zeigte.

Trotz massenhafter Demonstrationen (unter Beteiligung der Grünen) stimmte der Deutsche Bundestag gegen den Willen einer Bevölkerungsmehrheit 1983 der Aufstellung neuer NATO-Mittelstreckenraketen in Westeuropa zu ("NATO-Doppelbeschluss"). Die NATO unter Führung der USA hatte Deutschland die Grenzen einer autonomen Ostpolitik aufgezeigt. Das amerikanisierte deutsche Establishment akzeptierte die Vorgabe. Es wurde wieder kühler zwischen West und Ost.

Im Nachhinein fällt mir auf: Willy Brandt hat sich mit seinem Kniefall nur bei Polen entschuldigt. Nicht bei Russland oder wenigstens bei den Bürgern Leningrads. Gemeinsam mit finnischen und spanischen Truppen hatte die Wehrmacht Leningrad 28 Monate lang abgeriegelt. Über eine Million der Bürger Leningrads starben. Die meisten sind verhungert.

3. Das Gemeinsame Haus Europa

In das Projekt "Sozialismus" haben Millionen Menschen in aller Welt über viele Jahrzehnte Hoffnung investiert. Nirgendwo ist dieses Projekt nachhaltig gelungen. Im Mekka dieser gescheiterten Hoffnung hat Gorbatschow versucht, sozialistische Strukturen zu reformieren (Glasnost und Perestroika). Er löste damit den Zerfall des Machtmonopols der KPdSU und in weiterer Folge den Zerfall der Sowjetunion aus.

Gorbatschow wurde nach einem misslungenen Putsch der Altkommunisten von Jelzin entmachtet und trat als Staatspräsident der UdSSR zurück. Der Bankrott der Sowjetunion, Jahrzehnte lang Hort des "realen Sozialismus", beendete die Illusion einer großen, systemischen Alternative zum Kapitalismus.

Zuvor aber hatte Gorbatschow einseitige Abrüstung angeboten, mit Ronald Reagan und George Bush den Kalten Krieg beendet, der Wiedervereinigung Deutschlands zugestimmt und seine Vision vom Gemeinsamen Haus Europa beworben.

Diese Idee fand im Westen Europas durchaus Anklang. Noch Putin erhielt am 25. 9. 2001 standing ovations im Deutschen Bundestag, als er die "Einheit der europäischen Kultur" beschwor und unter anderem sagte:

Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.

Doch schon der völkerrechtswidrige Überfall der NATO auf Jugoslawien hatte den Vorgänger Putins, den US-hörigen Jelzin, enorm irritiert. Die absprachwidrige Osterweiterung der NATO und der Putsch in der Ukraine 2014 erdrosselte die Option des "Gemeinsamen Hauses" in the bud.

Nun ging es konsequent wieder in Richtung Konfrontation: Russland besetzte die Krim, die Minsker Gespräche entpuppten sich nach dem Zeugnis von Poroschenko, Merkel und Hollande als Scheinverhandlungen des Westens, um Zeit für die Aufrüstung der Ukraine zu gewinnen. Die Weigerung der NATO, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auszuschließen und mit Russland eine europäische Sicherheitsarchitektur zu verhandeln verstand Russland als unmittelbare Bedrohung seiner Existenz.

4.Krieg

Ein Krieg zwischen Russland und dem Westen war nach dem Amtsantritt Bidens und seinem Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2021 für mich nicht mehr ausgeschlossen. Diese Befürchtung erwies sich als berechtigt.

Die USA haben Russland mithilfe der NATO und nicht zuletzt durch forcierte Unterstützung extremer Nationalisten in der Ukraine, in Polen und im Baltikum in die Enge getrieben und verweigern bis dato jeden Kompromiss. Das Kalkül der USA ging auf. Russland entschloss sich zur Annexion der ethnisch-russischen Ostgebiete und zum Einmarsch in die Ukraine.

Dieser Rechtsbruch gilt in der Propaganda des Westens als die einzige, böse Ursache dieses Krieges und dient anhaltend als Rechtfertigung für jede weitere Eskalation. Da die aktuelle Offensive der Ukraine weit unter den Erwartungen bleibt / erfolglos ist, wird schon eine Frühjahrsoffensive 2024 unter Einsatz von Raketen mit 300 km Reichweite geplant.

Die Grenze zwischen "Unterstützung" und der unmittelbaren Beteiligung von NATO-Kräften an ukrainischen Kampfhandlungen (Aufklärung, Planung, "ehemalige" Soldaten aus NATO-Staaten als Söldner) ist längst überschritten. Die NATO und Russland ignorieren diesen Umstand jedoch in stillschweigendem Einvernehmen, um den Krieg konventionell zu halten. Dieses Einvernehmen kann sich ändern, vor allem, wenn die Ukraine tatsächliche und nicht nur propagandistische Fortschritte machen sollte.

***

Für die aktuell forcierte Europa-Idee der EU scheint wesentlich:

# totale ökonomische und politische Abkopplung von Russland, so lange es in der derzeitigen Form existiert

Folgt die EU-Nomenklatura damit nicht den Interessen der USA unter Missachtung ökonomischer und politischer Interessen aller Kontinentaleuropäer? Die Ergebenheit des europäischen Establishments gegenüber den USA, vor allem des Establishments in Deutschland, kennt offenbar keine Schamgrenze (Sprengung von Nordstream 2).

Wie verstört und hilflos die EU-Nomenklatura auf Liebesentzug aus Washington reagiert, hat die kurze Ära Trump gezeigt. Anstatt dieses Zeitfenster zur Emanzipation zu nutzen, war die führende politische Klasse Europas wie gelähmt, harrte sehnsüchtig auf den Wahlsieg Bidens, begrüßte ihn frenetisch und unterbot sich in Unterwerfungsgesten: "Fragt nicht, was Biden für euch machen kann, sondern fragt, was ihr für Biden machen könnt" (Ischinger). Sie folgte ihm willig in einen Krieg, bei dem die Europäer den Schaden ungeteilt und die Kosten zum größeren Teil tragen.

Dieser Krieg muss - wie der Krieg der NATO gegen Serbien - als Kampf zwischen Gut und Böse dargestellt werden, um die Westeuropäer bei der Stange zu halten. Mit der Verteufelung Putins gibt sich die Propaganda daher nicht mehr zufrieden. Von russischen "Gewaltmenschen" und der angeblichen "Gewaltkultur" in Russland im STANDARD ist es nicht mehr weit zu den "Untermenschen" der Nazis. Die zustimmenden Postings zu solchen Zuschreibungen sind noch hasserfüllter und verächtlicher, werden aber nicht gelöscht, sondern "geliked".

# die EU will rund um Russland expandieren

Die Europäische Union wird sich in den nächsten Jahren fundamental verändern. Sie wird sich weiter nach Osten ausdehnen. Die EU-Erweiterung, auch um die Ukraine, wird stattfinden so der EU-Diplomat Selmayr im STANDARD.

Die EU will Georgien, Moldavien, die Ukraine und weitere Nachbarn Russlands, etwa Armenien, in eine NATO-EU integrieren, die sich politisch am Gängelband der USA bewegt.

# die europäische Armee ist die NATO

Alle, die dazu bisher legitim andere Überlegungen hatten, wurden von der Wirklichkeit überholt. Realpolitisch wird Europa nicht wegen der vier Staaten, die nicht in der Nato sind, eine neue Militärstruktur schaffen so Selmayr weiter imSTANDARD.

Neutralität war gestern. Das Ziel ist klar: Russland soll mithilfe der NATO eingeschnürt und in irgendeiner Form zur Kapitulation gezwungen werden. Durch Zermürbung in Stellvertreter-Kriegen - die Bundeswehr plant den UkraineKrieg bis 2032 - durch Ruinierung seiner Wirtschaft, durch einen Regime-Change, am besten aber wohl durch die Aufspaltung in mehrere, gegeneinander auszuspielende Teilstaaten (Balkanisierung). Dann kommen die USA und ihre Vasallen an die "territorialen und Naturressourcen" Russlands heran in der traditionellen Manier des Westens, also ohne auf Augenhöhe mit Russland kooperieren zu müssen.

***

Für mich halte ich fest:

1) Diese EU ist nicht die EU, für die ich gestimmt habe.

2) Wie realistisch ist dieser ambitionierte Expansions- und Eroberungsplan? Abgesehen von der Frage, ob die EU sich in der Eile nicht überdehnt: hält Russland dem Ansturm der NATO-EU stand oder scheren die USA aufgrund eines Politikwechsel aus diesem Projekt aus, ist die EU wohl im Eimer. Schon der freiwillige Verzicht auf russische Energieimporte führt zu beträchtlichen, langfristigen Standortproblemen, wie das Handelsblatt berichtet. Ein nicht niedergeworfenes Russland wird die allfällige Wiederaufnahme von ökonomischen und politischen Beziehungen zu EU-Staaten gewiss differenziert angehen.

3) Dass das Establishment in den EU-Staaten so extrem US-hörig ist, hat mich immer wieder erstaunt. Im Grunde aber scheint es sehr einfach, wenn man sich die lange Besatzungszeit und die geschickte Soft-Power-Politik der USA vergegenwärtigt. Das US-Imperium hat in die Elite der EU-Staaten seit Jahrzehnten investiert, unfein gesprochen: es hat einen maßgeblichen Teil des Elite-Potentials durch Vorteils-Zuwendungen gekauft.

Ein Text, auf den ich im Athener Akropolis-Museum gestoßen bin, enthüllt eine historische Analogie zu dieser US-Politik:

From the 2nd century BC, Athens fell into the sphere of influence of a new world power, Rome. For her support, Athens was given control of the island of Delos (166 BC) and the enormous profits from the slave trade there. By and large, it was the upper classes of Athenian society which reaped the benefits of these profits and so became the most loyal supporters of Rome, gradually rendering democracy passive and impotent. Nevertheless, in the beginning of the 1st century BC, Athens switched camps and sided with Mithridates, the King of Pontus, in his fight against Rome. The consequences of this action were catastrophic: in 86 BC, the Roman general Sulla captured Athens after a siege of many months, put to death a large part of the population and leveled many sections of the city. This was the final and definitive end of Athenian democracy.

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(1) Allein die Änderung der Perspektive belegt, wie sehr die Sinne täuschen (Platons Höhlengleichnis). Erkenntnis ist nur im Rahmen angeborener Kategorien möglich (Kant). Der Intellekt ist eine Funktion des Willens: "Nichts ist verdrießlicher, als wenn man, mit Gründen und Auseinandersetzungen gegen einen Menschen streitend, sich alle Mühe giebt, ihn zu überzeugen, in der Meinung, es bloß mit seinem Verstande zu thun zu haben, - und nun endlich entdeckt, daß er nicht verstehen will; daß man also es mit seinem Willen zu thun hatte, welcher sich der Wahrheit verschließt und muthwillig Mißverständnisse, Schikanen und Sophismen ins Feld stellt, sich hinter seinem Verstande und dessen vorgeblichem Nichteinsehen verschanzend. Da ist ihm freilich so nicht beizukommen" (Schopenhauer). In eine ähnliche Kerbe schlägt Marx, der die Affirmation bestehender Verhältnisse, das vorherrschende "Narrativ", als kritikresistente, interessengeleitete Ideologie kritisiert. Kurz: in jeder Ansicht steckt immer schon das Subjekt mit seiner mehr oder weniger beschränkten Perspektive und seinen erkenntnisleitenden Interessen. Diesen Umstand vergessen selbst reflektierte Personen immer wieder - im obigen Zitat wähnt Schopenhauer jedenfalls sich selbst in der "Wahrheit".

Den schärfsten Widerspruch gegen das Festschreiben von "Erkenntnis" haben die Konstruktivisten formuliert (Ernst von Glasersfeld, Heinz von Förster, Humberto Maturana). Kommunikation auf Basis des Konstruktivismus erfordert redliche, reflektierte Charaktere. In vielen Auseinandersetzungen freilich wird eine gemeinsame Sichtweise gar nicht gesucht. Man bellt sich nur an. Über "wahr" und "falsch" entscheidet der mächtigere Wille.

(2) Vgl. Operation Overlord [WIKIPEDIA]

(3) Vgl. Die sowjetische Frühjahrsoffensive 1944 [WIKIPEDIA]

(4) Vgl. Operation Bagration [WIKIPEDIA]

(5) Der Anti-Nazismus wurde in Österreich und Deutschland zum offiziösen moralischen Imperativ erst als die alten Nazis wegzusterben begannen. Mittlerweile dient er dem transatlantisch gepolten Mainstream nicht nur zur Abgrenzung gegen echte Rassisten. Alle Kräfte, die nationale Interessen einmahnen, die im Zuge des Globalisierung-Schubs nach dem Bankrott der Sowjetunion unter die Räder gekommen sind, stehen im Verdacht, "rechts" bis "rechtsextrem" zu sein. Knallharte Nazis hingegen, die ihre Gesinnung bei Aufmärschen im Gedenken an Nazi-Kollaborateure mit eindeutigen Symbolen auf Fahnen und Tattoos in der Ukraine und im Baltikum offen zur Schau tragen, fallen nicht unter das liberale Reinheitsgebot. Sie hassen Russland. Wegschauen erlaubt.



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