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Die Kunst der Mitte |
01. 08. 2023
Denn überall ist es mühsam, die Mitte zu treffen. Aristoteles, Nikomachische Ethik (1109 a 20) Wer sich je mit Statistik beschäftigt hat weiß: Die Abweichungen der Messwerte vieler natur-, wirtschafts- und ingenieurwissenschaftlicher Vorgänge vom Erwartungswert lassen sich durch die Normalverteilung ... in sehr guter Näherung beschreiben [WIKIPEDIA]
Starke Abweichungen vom Erwartungswert (= "Normalität") sind ungewöhnlich. Dieser Zug zur Mitte überrascht nicht: Biologie: Mutationen in der Reproduktion sind selten. Weitaus die meisten Mutationen sind überdies schädlich oder neutral und leisten keinen positiven Beitrag zur Fitness der Organismen. Nur wenige Mutationen führen zu einer Verbesserung organischer Eigenschaften / zur Weiterentwicklung der Organismen. Ökonomie und Technik: Auch hier sind Abweichungen meist unerwünscht, etwa in der Qualitätsprüfung ("Ausschuss"). Starke Streuung löst Prozesse aus, die Abweichungen vom Erwartungswert beseitigen / verringern sollen. Wie sieht es mit der "Mitte" und den Abweichungen davon in Politik und Gesellschaft aus? In der jüngsten Debatte über Normalität in politischen Angelegenheiten beharren "Mitte-Politiker" darauf, Politik für Menschen zu machen, die sich zur mehrheitlichen "Mitte" der Gesellschaft rechnen. Dieser Mitte schreiben sie Eigenschaften wie "vernünftig", "nicht radikal" zu. Andere Politiker und Publizisten hingegen kritisieren die Ausrichtung der Politik auf die Mitte als "ausgrenzend", ja, als "faschistoid". Sie betonen: nur "Nicht-Normale" erbringen außergewöhnliche Leistungen in Kultur, Wissenschaft, Politik. Diese Menschen missachten Konformität, brechen Normen und sorgen so für Innovation und Fortschritt in der Gesellschaft. W. A. Mozart, Arnold Schwarzenegger, Hedy Lamarr u. a. werden dazu in einem Atemzug genannt. Aus positiven Einzelphänomenen einen Kult des Normenbruchs zu machen aber führt in die Irre. Weitaus die meisten Normenbrecher sind lediglich Leute, die vor nichts zurückschrecken, um banale, böse oder Wolken-Kuckucks-Ziele zu erreichen, wie Kriminelle oder radikal politisch Bewegte. Mitte-Politiker assoziieren daher zu "Klimaklebern" nicht Mozart und Einstein, sondern eher islamistische Hassprediger.
Aristoteles versteht in seiner Tugend-Lehre die Mitte nicht als statistische Häufigkeit, sondern als Ausrichtung des Denkens und Verhaltens auf die "Mitte zweier Schlechtigkeiten". Zum Beispiel sei die Mitte zwischen Kleinlichkeit und Verschwendung die Großzügigkeit. In den vielen Herausforderungen des Lebens stets das richtige Maß zu finden und zu praktizieren sei nicht trivial, sondern anstrengend. Tugend sei - so Aristoteles - eine Kunst und erfordere Übung wie das Bogenschießen. So verstanden wäre eine Politik der "Mitte" nicht einfach das Bedienen gegebener Mehrheiten, sondern die Kunst, stets einen gangbaren Weg zwischen extremen Alternativen aufzufinden, einzuschlagen und die Menschen dafür zu gewinnen. |
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