Im Westen leider nichts Neues

10. 07. 2023



Michael von der Schulenburg, ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der Vereinten Nationen, analysiert in einem ausführlichen Artikel die Entscheidungen und Folgen der Politik, die zum Ukraine-Krieg geführt haben und meint zu einem möglichen Ausgang dieses Krieges:

Der nächste Präsident der USA muss nicht unbedingt Trump heißen, aber wir können davon ausgehen, dass die USA, wie bei so vielen anderen Kriegen, in die sie mutwillig verwickelt waren, sich spätestens nach der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr vom teuren Ukraine-Abenteuer verabschieden werden.

Dann wird die Europäische Union die ganze Wucht ihrer fehlgeleiteten Außenpolitik treffen. Die EU wird dann Teil eines Europas sein, das erneut durch einen Eisernen Vorhang geteilt ist, der von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reicht und durch Sanktionen undurchlässiger sein könnte als alles, was wir noch aus den Zeiten des Kalten Krieges kennen.

Die EU wird auf diesem Kontinent mit einer zerstörten Ukraine, die ein enormes langfristiges Finanzloch darstellt, und vielleicht auch mit einem destabilisierten Russland, das durch seine 6,000 Nuklearsprengköpfe eine permanente Gefahr bedeutet, zusammenleben müssen.

Während die Wirtschaft der EU-Staaten von diesen Veränderungen schwer angeschlagen sein könnte, wird es die EU sein, die für die enormen Folgekosten dieses Krieges aufkommen muss. Das wird zu sozialen Problemen innerhalb von EU-Mitgliedsstaaten führen, die sich erhöht in politische und soziale Gewalt entladen können.

Die EU müsse daher

zu einer Sprache des Friedens zurückfinden und einen Friedensplan für Europa entwickeln, der Russland und die Ukraine mit einschließt, und an der Charta von Paris für ein neues Europa anknüpft.

Ich teile die Sicht Schulenburgs und finde seinen Vorschlag sympathisch. Die Wahrscheinlichkeit einer Wende in der EU nach seiner Intention halte ich jedoch für extrem gering.

Welche Motive sollte die EU-Nomenklatura, welche Motive sollte das Führungspersonal der meisten Regierungsparteien in den EU-Staaten dazu haben?

Die ehemals starken Volksparteien sozial- oder christdemokratischen Zuschnitts sind nach über 70 Jahren "Westernization", Atlantik-Brücke, Fulbright-Stipendien etc transatlantisch kontaminiert. Sie haben an Zuspruch verloren und sind mittlerweile auf Koalitionen mit Liberalen und Grünen angewiesen, die noch russophober und US-höriger sind.

Das US-affine Establishment (1) in den EU-Staaten hat sich über Jahrzehnte entwickelt. Sein Netzwerk ist weit verzweigt und tief verankert. Es erstreckt sich über Partei- und Verwaltungsstrukturen, Medien, Bildungs- und Kultureinrichtungen und hält Autonomisten / laue Atlantiker erfolgreich von Positionen mit Bedeutung fern.

Karriere in Politik und politischer Publizistik in der EU ist an die unbedingte Loyalität zu den USA und zur NATO gebunden. Distanz zu den USA, Kritik an der NATO, Kooperationsbereitschaft mit Russland bedeutet mittlerweile Verzicht auf Rang, Ruf und Einkommen - auch im Management strategisch bedeutsamer Unternehmen (siehe OMV) und natürlich in der Wissenschaft: die Experten, die medial zu Wort kommen, stehen stramm zu den USA und zur NATO.

Wie gut das Agieren der Transatlantiker im Verbund von Politik, Publizistik und Expertokratie funktioniert, machen u.a. solche Artikel deutlich:

SPÖ-Abgeordneter Matznetter entschuldigt sich für "unglücklichen" Tweet zu Ukraine-Krieg - Der SPÖ-Abgeordnete sprach davon, dass "beide Seiten" nicht wollen, "dass die Waffen schweigen und die Menschen am Leben bleiben" DER STANDARD

Fast schon regelmäßig sorgten in den vergangenen Monaten Politiker und Politikerinnen der SPÖ für Unverständnis und Kopfschütteln wegen ihrer Positionen zum Ukraine-Krieg mahnt das Zentralorgan der Transatlantiker in Österreich.

Allein deren "Kopfschütteln" versetzt die wenigen verbliebenen "Gaullisten", NATO-Skeptiker und Anhänger eines "Wirtschaftsraumes von Lissabon bis Wladiwostok" in SP und VP in Panik. Demütig bereuen sie "unglückliche" Formulierungen und sputen sich, durch Treuebekenntnisse zur "liberalen Demokratie", zu den USA und zur NATO zumindest verbal wieder auf Linie zu kommen.

Mit seiner US-hörigen Politik schädigt das Establishment die ökonomischen und politischen Interessen der EU-Bevölkerung. Die Unterstützung des Kriegs in der Ukraine weitet diese strategische Lücke Tag für Tag. Sie wird gefüllt von Parteien wie der AfD, der FPÖ, dem Rassemblement National etc. Parteien, die als "rechtsextrem" gelten, deren Regierungsfähigkeit bezweifelt wird und die dennoch an Zuspruch gewinnen.

So beachtlich die Flexibilität von Politikern ist: eine Wende in der Außenpolitik der EU, wie Schulenburg sie mit der Rückbesinnung auf die Charta von Paris wünscht, ist vom Establishment dennoch nicht zu erwarten (2). Dazu müsste es ausgetauscht werden. Fragt sich nur wie und durch wen.

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(1) Unter Establishment verstehe ich jenen Teil der Elite, der maßgebliche Positionen in Staat, Verwaltung, Publizisitik und Wissenschaft aktuell besetzt und verteidigt. Die Elite insgesamt besteht aus Personen, die Interessen unterschiedlicher Ausrichtung verfolgen, zu diesem Zweck unterschiedliche Gruppierungen bilden und nach Macht in Staat und Gesellschaft streben.

(2) Die Flexibilität mancher Akteure reicht bis zu 180 Grad, allerdings in die Gegenrichtung zur Intention Schulenburgs:

Die Position der Bundesregierung, sich gegen Streumunition auszusprechen, sei nach wie vor richtig, sagte Steinmeier am Sonntag im Sommerinterview des ZDF. "Aber sie kann in der gegenwärtigen Situation den USA nicht in den Arm fallen... Sicherheit in der Zukunft in Europa wird nicht mehr eine gemeinsame Sicherheit mit Russland sein, sondern wir werden uns voreinander schützen - mit immensen Ausgaben für unsere Verteidigungshaushalte, um besseren Schutz für Europa, für die Allianz und besseren Schutz für unsere eigene Bevölkerung in Deutschland zu organisieren" [FAZ]


Steinmeier hat 2008 für Deutschland das internationale Abkommen zur Ächtung der Streumunition unterschrieben. 2014 verhandelte er in Kiew einen Kompromiss (der von den "Euromaidan"-Neonazis abgelehnt und von den USA nicht unterstützt wurde):

"Der russische Vertreter hat Brücken bauen geholfen und immerhin den Text paraphiert", lobte Steinmeier demonstrativ im SPIEGEL

Als "Russenfreund" von der Ukraine etikettiert und demonstrativ nicht eingeladen, hat er Buße getan und läuft dem supreme leader nun auch treu hechelnd voraus.



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