Fukuyama vs Huntington

18. 06. 2023

Im Journal "The American Conservative" wirft R. Jordan Prescott eine interessante Frage auf:

Would the past three decades of American foreign affairs have differed if decision-makers had adopted Huntington's worldview rather than Fukuyama's? And does his thesis remain relevant today ['The Clash of Civilizations?' at Thirty, 07. 06.2023]?

Zum näheren Verständnis

Francis Fukuyama sah nach dem Bankrott der Sowjetunion allen Ernstes das "Ende der Geschichte" gekommen: an der "liberalen Demokratie" des Westens sei zunächst der Nationalsozialismus und schließlich der Kommunismus zerschellt. Damit sei der "Westen" alternativlos zur universalen Zivilisation geworden.

Samuel Huntington hingegen ging von der konkurrierenden Existenz relativ beständiger Weltkulturen aus. Fakt ist: Das Kommen und Gehen von Nationalsozialismus und Kommunismus etwa hat die sinensische Kultur Ostasiens und die islamische Kultur in Nordafrika und Südwestasien berührt, aber im Kern nicht verändert. Auch doppelte Buchführung, Raketen, Atombomben und andere hoch komplexe Produkte adoptieren diese Kulturen und erweisen sich dagegen als resilient.

Im Rahmen jeder Kultur rittern unterschiedliche Kräfte um die Dominanz innerhalb dieser Kultur. In der "abendländischen" Kultur haben in den vergangenen Jahrhunderten eine Reihe von Reichen und Staaten darum gekämpft und diese Rolle zeitweise eingenommen: Spanien, Großbritannien, Frankreich, Deutschland... Aus den letzten dieser internen Kämpfe sind 1945 die USA als führende Macht hervorgegangen.

Aber auch die Spannung und Konkurrenz zwischen den Weltkulturen entlädt sich immer wieder in Kriegen zur wechselseitigen Eindämmung, Unterwerfung oder Befreiung. Im Verhältnis zueinander werden sie dabei mächtiger oder schwächer, vergehen, steigen auf oder werden vernichtet.

Zurück zu Prescott

Der Realitätsbezug von Fukuyamas These erwies sich rasch als gering: das völkerverbindende Band des Sozialismus zerriss und in Jugoslawien eskalierten zwischen katholischen Kroaten, orthodoxen Serben, bosnischen und kosovarischen Moslems alte kulturelle Gegensätze, die aus geopolitischen Interessen von außen zusätzlich befeuert wurden. Auch Terror aus der islamischen Welt gegen westliche Staaten und Einrichtungen war und ist kein Indiz dafür, dass die westliche Zivilisation auf dem Weg ist, universell zu werden.

Aus Huntingtons Perspektive (1) hingegen sind all diese Konflikte sehr viel verständlicher.

Dennoch geht der "Westen" unter Führung der USA unverdrossen davon aus, dass seine Interessen und Werte universelle Bedeutung haben. In besonders dümmlicher Weise belehrt die deutsche Außenministerin China, Saudi-Arabien, Brasilien etc über diese Hybris (2).

Wer immer die edle Überlegenheit des Westens nicht versteht wird missioniert, bei Weigerung sanktioniert oder bekriegt - freilich mit deutlich sinkendem Erfolg:

a) Chinas Rolle und Einfluss auf die Welt ist ökonomisch und politisch innerhalb weniger Jahrzehnte enorm gewachsen. Dieser Erfolg ist abzulesen an Projekten wie der "neuen Seidenstraße" bis zur erfolgreichen Streitschlichtung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran.

b) Die erfolglose Besetzung Afghanistans, die magere politische Ausbeute aus der Devastierung des Iraks und Libyiens, der gescheiterte Umsturz in Syrien, das selbständige Agieren der Türkei, Saudi-Arabiens etc markieren den sinkenden Einfluss des "Westens" auf die islamische Welt.

c) Auch der Versuch der USA, Russland mithilfe von Leuten wie Chodorkowski, Nawalny etc zu "übernehmen", zu zerlegen oder zumindest einzudämmen und weltweit zu isolieren ist bisher ohne Erfolg. Die Sanktionen gegen Russland werden außerhalb des Westens nicht mitgetragen. Wie es scheint, beschleunigt der Krieg in der Ukraine vielmehr die Ent-Dollarisierung des Welthandels und schwächt die USA. Darüber hinaus müssen die USA und der "Westen" sich in der Ukraine immer massiver engagieren, ohne dass Russland sich bis dato militärisch, ökonomisch und politisch geschlagen gibt.

Den Terrain-Verlust der USA sieht Prescott durch das hartnäckige anti-russische Engagement in der Ukraine nicht gebremst, sondern beschleunigt:

Russland sei - wie Prescott mit Bezug auf Huntington schreibt - a "torn" country, oscillating between its Eurasian origins (3) and Western aspirations.

Statt Russlands europäischen Avancen entgegenzukommen (Gorbatschows "Gemeinsames Haus" (4), Putins Rede im Deutschen Bundestag (5)) treibe der "Westen" unter Führung der USA Russland in eine Partnerschaft mit China.

Prescott beurteilt den Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland als nachteilig für die Interessen seines Landes und fordert das Ende dieses Engagements: Russia is a reluctant junior partner to China, and before it lapses into complete subservience the West should move expeditiously to end the war in Ukraine before China does - and to exploit every possible fissure between the two powers.

Gegenwärtig sieht es nicht danach aus, als hätte dieser Appell Aussicht auf Erfolg (6). Die Kriegstreiber unter Biden (Nuland, Blinken etc aber auch Republikaner wie Lindsey Graham) geben nach wie vor den Ton an. Ist ein Strategiewechsel der USA gegenüber Russland aber auszuschließen, wenn die Ukraine noch länger militärisch erfolglos bleibt?

Sollte es tatsächlich dazu kommen - wer weiß, wie die Regierung der USA nach den Wahlen 2024 aussieht - steht die EU da wie ein begossener Pudel. Als treu hechelnder Vasall der USA hat sie sich als eigenständige Macht gegenüber Russland selbst aus dem Spiel genommen. Als "Partner" kann sie von Russland aber auch von China nur nach einer überzeugenden Emanzipation von den USA ernst genommen werden.

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(1) Huntington gilt als "Schüler" von Oswald Spengler. Spengler hat unter Historikern keinen guten Ruf: sein Buch "Der Untergang des Abendlandes" gilt als schwer lesbar, mythisch, im Detail fehlerhaft und kulturpessimistisch: er spricht von der "Seele" einer Kultur, vom Auf- und Ab der Kulturen nach den Gesetzmäßigkeiten organischen Lebens. Demnach steigt eine Kultur mit charakteristischen Potentialen und Grenzen aus einem ungeklärten Umfeld auf, blüht, kommt zur Reife, vergreist und vergeht oder wird vernichtet. Innerhalb dieser Begrifflichkeit und eines Sprachgebrauchs, der heute wohl befremdlicher wirkt als vor 100 Jahren, finden sich ungewöhnliche Einsichten, erhellende Beobachtungen und scharfsinnige Ideologiekritik. Der Vorwurf des "Pessimismus" hängt offenbar stark am Titel seines Werks. Wer sich auf die Lektüre einlässt, wird ihm eher die illusionslose Wahrnehmung menschlichen Verhaltens in unterschiedlichen Entwicklungsphasen von Kulturen zuschreiben, deren Urgund er für unerklärlich ("kosmisch") hält.

(2) Diese plumpe Belehrung und Bedrohung des "globalen Südens" im Rahmen des westlichen Sanktionsregimes gegen Russland hat allerdings nicht gefruchtet. Mehr verspricht sich der "Westen" nun von einer Charme-Offensive etwa gegenüber Indien und Brasilien in Form ökonomischer Hilfs- und Kooperationsangebote.

(3) "Rus" hießen die Herrschaftsgebiete der Rurikiden, benannt nach ihrem Stammesfürsten Rurik, vermutlich skandinavischen Ursprungs ("Waräger"). Die Moskowitischen Rurikiden haben ihren Machtbereich durch Zerschlagung tatarischer Khanate nach Osten und Süden erweitert. Nach Auflösung der Sowjetunion sind deren zentralasiatische Republiken selbständige Staaten geworden (Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan). Das heutige Russland ist somit "europäischer" als es die Sowjetunion war. Richtig bleibt: Russland hat ein Janusgesicht und blickt nach West und Ost.

(4) Gorbatschows persönliche Bilanz 2014, 25 Jahre nach dem "großen Umbruch", fiel verbittert aus: Nirgendwo im Westen habe es damals einen echten Partner für ihn gegeben; wahrscheinlich habe keiner im anderen Lager auch nur annähernd begriffen, welches Risiko er, der damals mächtigste Mann jenseits des Eisernen Vorhangs, mit dem politischen Konzept "Glasnost und Perestroika" eingegangen sei. Er hätte ein gemeinsames "Haus Europa" angestrebt und habe stattdessen eine Siegermentalität angetroffen. Das sei am Ende der Grund gewesen, warum Russland, nach dem "politischen Ausverkauf" und der "ökonomisch-politischen Anarchie" der Jelzin-Jahre (1991-1999), einen "Machtmenschen" wie Wladimir Putin geradezu gebraucht hätte, wollte es nicht gänzlich aus der Weltpolitik verschwinden [WIKIPEDIA]

(5) Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird [Zitat aus dem Wortprotokoll von Putins Rede] - Appetit auf die "territorialen und Naturressourcen" Russlands haben EU und USA allemal. Freilich nicht in Form einer Partnerschaft, sondern - wie schon NAZI-Deutschland - in Form der Unterwerfung, dh erst nach einem "regime change", etwa mit Herrn Nawalny als Satrapen.

(6) 20. Juni 2023: Die Biden-Administration scheint erkannt zu haben, dass ein Zweifronten-Konflikt mit Russland und China nicht zu gewinnen ist: The United States stands by the commitments made by President Biden, namely the United States does not seek a new Cold War, it does not seek to change China's system, its alliances are not directed at China, it does not support Taiwan's independence, and it does not seek conflict with China zitiert "China Central Television" laut TASS den US-Außenminister. - Die Biden Regierung will den Krieg gegen Russland also weiterführen und China dazu ruhig stellen.



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