Das ausgediente Friedensprojekt

1. 06. 2023

Wenige Tage vor der Kampfabstimmung um den SPÖ-Vorsitz ist am Dienstag ein Video aufgetaucht, in dem der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler scharfe Kritik an der Europäischen Union übt. In dem aus dem Jahr 2020 stammenden Mitschnitt nennt er die EU etwa das "aggressivste außenpolitische militärische Bündnis, das es je gegeben hat". Die Union sei in der Doktrin "schlimmer als die Nato".

Nach befremdeten Reaktionen eiert Babler wieder herum ("Ich bin Marxist" ... "Ich bin kein Marxist"): "Die Formulierung mag überzogen sein, aber anstatt über semantische Spitzfindigkeiten zu diskutieren, sollten wir besser darüber sprechen, wie wir die EU sozialer und bürgernäher gestalten können".

Breiten wir den Mantel der Barmherzigkeit über diesen lieben Wunsch. Damit wird Babler die Kurve nicht kratzen.

Wer kein Glaubensbekenntnis an die EU, wer keinen Treue-Eid auf die NATO ablegt kommt nicht einmal an das Macht-Hebelchen eines Parteivorsitzenden der SPÖ. Selbst die Führung der zum Erbarmen geschrumpften Linken in Deutschland liebäugelt nach dem Vorbild der Joschka-Fischer-Grünen mit dieser Unterwerfung, wird aber nicht mehr gebraucht.

In den Kommentaren der Leitmedien und im Forum des "linken" STANDARDs (1) wird Babler streng ermahnt / kriegt die volle Breitseite ab: mit veralteter linker Ideologie kann Babler die SPÖ nicht führen. Die EU sei ein "einzigartiges Friedensprojekt", sie habe "die längste Friedenszeit" in Europa herbeigeführt.

Echt?

Der weitaus längste Teil dieser Friedenszeit - 48 Jahre - lag VOR der Mutation der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Union (1993).

Sechs Jahre später beteiligen die NATO-Staaten der EU sich am Überfall auf Jugoslawien. Politisch und publizistisch ist auch das neutrale Österreich dabei. Im Gleichschritt mit der NATO breitet die EU sich nach Osten aus. Im Kielwasser der USA bombardieren und devastieren EU-Staaten Libyen und Afghanistan (und befeuern die ungesteuerte Migration nach Mitteleuropa). Seit Beginn des Ukraine-Kriegs (2014) im Gefolge des US-instrumentierten Putschs ("fuck the EU") steht die Union unter Führung der USA de facto im Krieg gegen Russland. Neutralität in der EU wird unmöglich. Schweden und Finnland treten der NATO bei. Der Wehrdienstvermeider in der Hofburg gebärdet sich unter dem Beifall der Qualitätspresse so militant wie der Führer eines NATO-Front-Staates.

***

Nach der Auflösung des Warschauer Pakts erschien ein Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok und ein dauerhafter Friede mit Russland als realistische Option. Russland war stark daran interessiert und viele Unternehmen in den EU-Mitgliedstaaten ebenfalls, vor allem in Deutschland und Österreich. Ein Teil der EU-Politiker - mit Ausnahme eingeschworener Atlantiker - hat sie dabei unterstützt.

Das konnte Großbritannien und den USA nicht gefallen. Erst im institutionellen Rahmen der politischen Union ist es den Atlantikern gelungen, diese Option zu diskreditieren und ab 2014 EU-weit administrativ abzuwürgen (Sanktionen).

Der von den USA herbeigewünschte Einmarsch Russlands in die Ostukraine bot den Atlantikern Gelegenheit, Handel und Kooperation mit Russland definitiv zu beenden. Gleichzeitig geächtet wurde der letzte Rest an Souveränität einzelner EU-Staaten im Verhältnis zu Russland und China. Etabliert wurde statt dessen die engste Abhängigkeit von den USA. Den Schlusspunkt zu diesem Prozess haben die USA (2) mit der widerspruchslosen Sprengung von Nordstream 2 gesetzt.

Kurz: die EWG kann als Friedensprojekt gelten. Die EU, aus der Taufe gehoben nach dem Bankrott der Sowjetunion, war und ist es nachweislich nicht, ebensowenig, wie die NATO nach Auflösung ihres Gegenparts ein Verteidigungsbündnis geblieben ist. Schulter an Schulter sind beide Institutionen in Räume expandiert, aus denen die Sowjetunion sich zurückgezogen hat - unter Missachtung von Zusicherungen, die sie vor Auflösung des Warschauder Pakts abgegeben haben.

Der Friede in Europa wurde so nicht gefestigt. Im Gegenteil: mit dem Überfall der NATO auf Jugoslawien ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Russland wurde dabei kalt erwischt. Das hat die USA und die NATO-EU zu weiteren Vorstößen ermutigt (Georgien, Ukraine, Moldawien, Nawalny etc).

Der Krieg in der Ukraine verläuft für die USA und die NATO allerdings weniger erfolgreich als erwartet. Am Einfrieren des Konflikts scheint Russland immer weniger interessiert. Russland versteht diesen Krieg als Existenzkampf. Russland ist sich bewusst, dass es diesen Kampf allein ausfechten muss und strebt eine nachhaltigere Lösung an (3) als einen Waffenstillstand.

Dieser Krieg - so er konventionell bleibt - endet daher kaum mit einem Waffenstillstand auf unbestimmte Zeit. Eher mit der Zerstörung Russlands oder mit einer nachhaltigen Einbremsung der geopolitischen Ambitionen der NATO. Im zweiten Fall wird es vermutlich zu Turbulenzen in der EU und in ihrem Verhältnis zu den USA kommen.

Der Krieg in der Ukraine ist der Dritte Große Krieg seit 1914, in dem das europäische "Abendland" und seine Ausläufer in der Welt sich selbst zerfleischen. Die Staaten außerhalb des "Westens" und Russlands warten ab: wer geht als Gewinner vom Platz? Weltpolitisch gesehen schwächt dieser Krieg Europa UND die USA. Mächte wie China, Indien... gehen gestärkt daraus hervor, ohne einen Finger rühren zu müssen.

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(1)"Links" hat in den letzten Jahrzehnten einen Bedeutungswandel erfahren. Für "links" halten sich heute Leute, deren Großeltern vielleicht Arbeiter waren, selbst aber streifen sie an das Proletariat nicht an. Sie haben maturiert, studiert und fühlen sich intellektuell auf der Höhe der Zeit. Sie sind an progressiven Kulturereignissen interessiert, nehmen sexuelle Randgruppen wichtig und sympathisieren mit NGOs, die aus moralischen Motiven das Geschäft der Schlepper unterstützen. Statt Wehrdienst leisten sie bestenfalls Zivildienst, finden Waffengewalt der "richtigen" Seite aber OK. Ihr Weltbild beziehen sie aus "FALTER" und "STANDARD". Wer ihre Sicht der Verhältnisse nicht teilt ist ein Trottel oder ein Nazi.

(2) Dass die USA an der Sprengung unbeteiligt waren kann niemand ernstlich annehmen. Die Versionen, die zur Entlastung des Supreme Leaders der EU durch die Medien geistern ("die Spur führt in die Ukraine, die ukrainische Regierung aber war an der Sprengung nicht beteiligt") sind eine Zumutung an den politischen Verstand der Medienkonsumenten.

(3) Nach den Bekenntnissen von Poroschenko, Merkel und Hollande sollten die nie umgesetzten Minsker Vereinbarungen der Ukraine nur Zeit zur Aufrüstung bringen. Ein Einfrieren des Konflikts bedeutet für Russland daher nichts anderes als Zeitgewinn des Westens zur Vorbereitung des nächsten Waffengangs mit demselben Ziel: die Entmachtung und Zerschlagung Russlands in ein paar Einzelstaaten. Unter einer nachhaltigen Lösung verstehen die mir zugänglichen russischen Analysten die (bedauerte) Aufgabe der "illusionären" Europa-Orienterung Russlands zugunsten einer "multipolaren Weltordnung", die v. a. mithilfe der BRICS-Staaten realisiert werden soll.

Ergänzung 05. 06. 2023

Am SPÖ-Bundesparteitag in Linz am Samstag sind die Stimmen vertauscht worden. Das gab am Montag die Vorsitzende der Wahlkommission, Michaela Grubesa, in einer eilig einberufenen Pressekonferenz bekannt. Andreas Babler erhielt die meisten Stimmen und ist somit SPÖ-Parteivorsitzender [ORF]

Keinem Kommissionsmitglied ist nach Auszählung der Stimmen die nachfolgende "Vertauschung" aufgefallen? - Rätselhaft.

Von Marx zu Murks... ab jetzt umgekehrt? - Geh.

Egal. Als Parteivorsitzender der SPÖ wird Babler sich Herumeiern beim EU/NATO-Thema keinesfalls leisten können. Nach BGM Ludwig hat auch LH Kaiser klargestellt, dass die SPÖ eine "pro-europäische" Partei sei. "Pro-europäisch" ist das anmaßende, irreführende Label für "Pro EU". Und da die EU mit der NATO verschmolzen ist, heißt das auch "Pro NATO".

Frei nach Adenauer (Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden) wird Babler also einen Eid auf die EU, auf die NATO und auf die Unterstützung der Ukraine gegen den "russischen Angriffskrieg" ablegen müssen. Ich zweifle nicht daran, dass er dieser Aufgabe im Rahmen vieler Interviews und klärenden Statements nachkommen wird.



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