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Sieg der Simplifizierung |
26. 02. 2023 Der Chor der Berichte und Kommentare im Mainstream zur Initiative von Wagenknecht und Schwarzer / zur gestrigen Demonstration in Berlin ist einstimmig: Die Unterzeichner der Initiative und die Demonstranten sind allenfalls sympathische, aber realitätsferne Menschen. Ihre Urteilskraft ist getrübt oder von dubiosen Wortführern fehlgeleitet, manipuliert. Wer für einen Stillstand der Waffen, wer für Verhandlungen eintritt, ist ein nützlicher Idiot des imperialistischen Diktators im Kreml. Die USA haben die Verteidigung von Freiheit und Demokratie vom Hindukusch in die Ukraine verlegt. Diesem Entschluss hat sich nicht nur der Westen, sondern haben sich grundsätzlich alle Länder dieser Welt anzuschließen. Wer nicht / nicht ganz so mittut wie von Washington erwartet, aber mächtig ist, wird umschwänzelt (Indien, Brasilien...). Wer nicht mächtig ist, wird bedroht / sanktioniert, wie die österreichische Raiffeisenbank. "In diesem Konflikt", sagt Joachim Gauck, "gibt es ein Schwarz und ein Weiß, ein Opfer und einen Täter." Und alles dazwischen verbiete sich, sagt unser ehemaliger Bundespräsident [FOKUS] Diese alberne, manichäische Simplifizierung der Realität dominiert in den Medien und in der Politik der Regierenden in den USA, in der EU und im neutralen Österreich.
Mao Tse-Tung - irritiert durch den Volksaufstand in Ungarn - hat sich am 27. Februar 1957 in einer Rede vor dem Staatsrat mit der Frage "Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volke" beschäftigt. Die Partei dürfe unterschiedliche Interessen und Gegensätze in der Bevölkerung nicht ignorieren, sondern müsse "richtig" damit umgehen. Die Kommunisten sollten "von dem Wunsch nach Einheit ausgehen", dürften sich aber "auf administrative Weisungen allein nicht verlassen". Sie müssten dem Volk helfen "eine freie Diskussion über Probleme aller Art zu entfalten und sie nicht zu behindern". Unterschiedliche Interessen dürfen nicht zu "antagonistischen" Widersprüchen ausarten, die in gewaltsame Auseinandersetzungen münden. Etwas anders formuliert klingt Maos Gedanke für heutige Ohren vielleicht annehmbarer: Die Interessen von Individuen, Gruppen, Parteien innerhalb eines Staates und zwischen Staaten sind teils gleichartig, teils aber unterschiedlich bis gegensätzlich. Die vornehmste Aufgabe von Politik besteht darin, mit unterschiedlichen bis gegensätzlichen Interessen nicht ignorant oder brutal, sondern kreativ umzugehen. Bleibt so ein Umgang mit Interessensunterschieden aus, finden also keine Gespräche, keine Verhandlungen statt mit dem Ziel, kreative Lösungen für einen Interessenausgleich ("Win-Win") zu finden, wächst die wechselseitige Entfremdung. Unterschiedliche Interessen eskalieren zu "antagonistischen Widersprüchen" und werden schließlich gewaltsam ausgetragen.
Politisch relevante Widersprüche bestehen und entstehen laufend in zahlreichen Sachgebieten und auf unterschiedlicher Stufenleiter. Meine persönliche Erfahrung im Umgang mit solchen Widersprüchen ist auf die Arbeitsmarktpolitik beschränkt. Die Aufgabenstellung in diesem Bereich unterscheidet sich nach den Inhalten, der Größenordnung, der Lokalität etc von der Aufgabenstellung in anderen Politikfeldern, nicht aber strukturell. Dazu ein kurzer Rückblick: Angesichts der explodierenden Arbeitslosigkeit in den achtziger Jahren hatte sich ein Netzwerk privater Dienstleister, Berufspolitiker und Journalisten formiert. Es machte die staatliche Arbeitsmarktverwaltung für die steigende Arbeitslosigkeit verantwortlich. Es sei an der Zeit, diesen ineffizienten Hort für Sozialschmarotzer durch effektive und kostengünstige private Dienstleister zu ersetzen. In der Tat war die damalige Arbeitsmarktverwaltung mental, organisatorisch und von der Qualifikationsstruktur der Mitarbeiter nicht gerüstet für die neuen Herausforderungen. In meinem Entscheidungsbereich habe ich natürlich gegengesteuert, vgl. dazu Bye, bye, AMS. Private Dienstleister auf dem Arbeitsmarkt hat es immer gegeben. Bei manchen Problemstellungen haben sie Vorzüge. Die Abschaffung öffentlicher Dienstleistungen aber hätte m.E. zu einer systematischen Vernachlässigung der sozialen Aspekte der Arbeitsmarktpolitik geführt. Im September 1988 hatte ich als Vertreter des Sozialministers (Dallinger) an der 14-tägigen Herbsttagung der International Labour Organization (ILO) in Genf teilgenommen. Dabei hatte ich die drittelparitätische Struktur dieser UNO-Organisation näher kennengelernt. Sie erschien mir für Zwecke der Arbeitsmarktpolitik optimal. Am 27. 9. 1990 schlug ich im Rahmen eines Pressegesprächs die Ausgliederung der Arbeitsmarktverwaltung vor und eine drittelparitätische Eigentümerstruktur zur Verbesserung von Effektivität, Effizienz und Akzeptanz öffentlicher Arbeitsmarktdienste. Diesen Vorschlag hatte ich mit aufgeschlossenen Führungskräften und Vertretern der regionalen Sozialpartner abgestimmt. Publiziert habe ich den Vorschlag und die Argumentation dazu in der Dezembernummer 1990 der Wirtschafts- und sozialpolitischen Zeitschrift des ISW, des Forschungsinstituts der Arbeiterkammer Oberösterreich. Die wesentlichen Elemente dieses Vorschlags (Priorität der aktiven Arbeitsmarktpolitik gegenüber Versorgungsagenden, Abgabe von nicht arbeitsmarktbezogenen Leistungen an andere Einrichtungen, Dezentralisierung der Organisation, Drittelparität der Eigentümer, Arbeitsmarktakademie...) sind 1994 mit dem AMSG umgesetzt worden. Nach nahezu dreißig Jahren AMS kann man sagen: diese Struktur hat sich bewährt. Das AMS hält internationalen Vergleichen locker stand und steht politisch weitgehend außer Streit. Warum? Vertreter der Arbeitnehmer und Arbeitgeber treffen sich regelmäßig auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene. Sie teilen ihre Sicht auf das Arbeitsmarktgeschehen anhand des diffizilen Berichtssystems des AMS. Sie tauschen unter der Moderation von AMS-Funktionsträgern ihre Eindrücke und Vorschläge zur Arbeitsmarktpolitik aus und finden fast immer - freilich nicht selten nach überaus zähen Verhandlungen / Tauschgeschäften - gemeinsame Lösungen. Die Regelmäßigkeit und die Dichte der Kontakte auf allen Ebenen dienen dem wechselseitigen Kennenlernen der Akteure, ihrer Interessenlagen und Wahrnehmungen. Die gemeinsame Sicht auf den Arbeitsmarkt und seine aktuellen Herausforderungen ermöglichen konstruktive Diskussionen, die zu kreativen Lösungen führen, mit denen beide Seiten leben können. Das wiederum stützt das Vertrauen zueinander und so startet der Regelkreis von Neuem.
Was das mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hat? Wer Gespräche und Verhandlungen mit potentiellen Konfliktpartnern vernachlässigt / aussetzt / verweigert; wer Interessen anderer ignoriert, weil er glaubt, sich diese Ignoranz leisten zu können; wer den anderen für bös und sich selbst für gut hält - der fördert die Entfremdung und leistet einem Prozess Vorschub, in dem unterschiedliche Interessen sich zu antagonistischen Widersprüchen auswachsen. Dem Ausbruch von Gewalt geht Entfremdung meist voran. So gesehen dokumentiert der Krieg in der Ukraine das totale Versagen von Politik und Diplomatie. Das aber ist nur eine Feststellung, keine Erklärung. Sehen wir genauer hin, enthüllt sich dieses Versagen als eine Mischung aus Absicht, Ressentiment, Feigheit und Unfähigkeit. Im Detail: Dass GB und die USA kein Interesse an einem "Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok" haben und kein Interesse an einem prosperierenden, kooperativen Europa unter Einbeziehung Russlands - das ist verständlich. Wenn die USA in der Europapolitik daher spaltend gehandelt haben (das neue und alte Europa) und fortgesetzt so handeln ist dies nach den Maximen der US-Hegemoniepolitik [Brzezinski] nachvollziehbar. - Das ist der Beitrag der Absicht zur Katastrophe in der Ukraine. Die Nationalisten in Polen, im Baltikum und in der Ukraine haben ihre historischen Ressentiments gegenüber Russland auch nach 1989 weiter gepflegt. Sie ließen und lassen sich von GB und den USA willig als Speerspitze gegen Russland, aber auch gegen das Gewicht von Frankreich und Deutschland in der EU instrumentalisieren. Auch das kann nicht überraschen. Womöglich erhoffen diese Staaten sich von einer Vernichtung Russlands mit Hilfe der USA Gebietsgewinne. Ihr hysterischer Nationalismus ist europaschädlich und Gift für den Charakter der eigenen Bevölkerung. - Das ist der Beitrag des Ressentiments zur Katastrophe in der Ukraine. Was aber können Mitteleuropäer gegen einen "Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok" und gegen ein prosperierendes Europa unter Beteiligung Russlands haben? Herausragende europäische Unternehmen und Funktionäre der europäischen Wirtschaftskammer haben diese Idee jedenfalls hartnäckig verfolgt. Jetzt freilich wird dieser Satz so zitiert, als sei er die Losung Putins zur Wiedererrichtung der Sowjetunion und zur Eroberung Westeuropas gewesen. Ein Politiker und Lohnschreiber nach dem anderen erklärt, dass die Orientierung auf dieses Ziel ein "Fehler" gewesen sei. Nicht einmal die Sprengung von Nordstream 2 wollen die europäischen Regierungen ernsthaft untersuchen, weil sie wissen, was dabei herauskommt. Gibt es noch Unternehmer und Politiker, die die Idee von einem "Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok" für keinen "Fehler" halten? Offenbar. Aber sie schweigen aus Angst / aus Klugheit vor Diffamierung, politischer Verfemung und vor persönlichen / betrieblichen Sanktionen. - Das ist der Beitrag der Feigheit zur Katastrophe in der Ukraine. Die Linie der deutschen Regierung wird von Leuten wie Habeck, Baerbock etc erheblich mitbestimmt. Habeck dilettiert in einem Amt, das einst Kaliber wie Ludwig Erhard oder Karl Schiller geleitet haben. Baerbock toppt den ehemaligen (allerdings senilen) Bundespräsidenten Lübke mit der haarsträubenden Dummheit ihrer Äußerungen. Der moralisierende Fanatismus des grünen Polit-Personals (Hofreiter etc) ist kein Ausweis von Intelligenz, sondern von Anmaßung. Den Vogel hat jüngst die "Grüne Jugend München" abgeschossen. Sie hat per Instagram getönt, die "Operation Barbarossa 1941" sei der Höhepunkt russischer(!) Eroberungs- und Expansionspolitik gewesen. So viel Verbohrtheit, Inkompetenz und Bildungsferne in einer regierenden Partei! - Das ist der Beitrag der Unfähigkeit zur Katastrophe in der Ukraine.
Nach den im Mainstream tagtäglich verbreiteten Durchhalteparolen ist auf Sicht mit keinem Waffenstillstand und schon gar nicht mit Friedensverhandlungen zu rechnen. Noch streben beide Hauptbeteiligten eine Lösung auf dem Schlachtfeld an: Russland will die Ukraine in irgendeiner Form "unschädlich" für Russland machen. Die Selensky-Regierung will die Ukraine entrussifizieren und - ermutigt und unterstützt von den USA / der NATO - zurück zu den Grenzen von 1991. Die USA wollen Russland maßgeblich schwächen, am liebsten zerschlagen / "entkolonisieren". Die EU hat keine eigenen Ziele. Sie folgt der Forderung des ehemaligen Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz: "Fragt nicht, was Biden für euch machen kann, sondern fragt, was ihr für Biden machen könnt". Die EU ist von einem europapolitischen Hoffnungsträger zu einem machtlosen Vasallenverein der USA verkommen. Läuft es auf eine wechselseitige Erschöpfung ohne Sieg hinaus ist das Resultat vermutlich 1) eine entrussifizierte, aber etwas kleiner gewordene Ukraine. Sie wird Teil der NATO und Mitglied der EU werden und den Mitteleuropäern noch viel Freude machen 2) eine teure, hochgerüstete Demarkationslinie quer durch Europa zwischen einem US-abhängigen Teil ("EU") und einem an China angelehnten Teil (RU). Diese Rumpfteile Europas sind politisch und ökonomisch entkoppelt, bleiben beide weit unter dem gemeinsamen Potential und belauern einander auf unabsehbare Zeit. Will nur eine der beiden Seiten sich mit diesem Szenario nicht abfinden, können die Konfliktpartner natürlich weiter Krieg führen, allenfalls bis zur wechselseitigen Vernichtung. |
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