"neutral, ohne neutral zu sein"

09. 02. 2023

Blinken zollte Österreich jedenfalls "Anerkennung für das Engagement" in der Ukraine. Dabei sei den USA durchaus bewusst, dass Österreich im Gegensatz zur Schweiz politisch keineswegs neutral sei. "Ihr seid neutral, ohne neutral zu sein", brachte Blinken laut Schallenberg die Sache auf den Punkt [STANDARD]

Der österreichische Außenminister findet, dass Blinken mit dieser zynischen Diagnose die Sache der österreichischen Neutralität "auf den Punkt" gebracht hat. Was hätte Kreisky - einer der Väter der österreichischen Neutralität - dazu gesagt?

Das humanitäre Engagement der neutralen Schweiz in der Ukraine ist nicht geringer als das humanitäre Engagement Österreichs. Mit dem Engagement Österreichs in der Ukraine kann Blinken also nicht das humanitäre Engagement Österreichs im Unterschied zu jenem der Schweiz gemeint haben. Seine Feststellung zum Neutralitätsverständnis a la Schallenberg legt vielmehr nahe, dass er mit dem Engagement Österreichs in der Ukraine eher das neutralitätswidrige Signal der Pilgerreise unseres HBP nach Kiew und natürlich den Huldigungs-Besuch Schallenbergs in den USA verstanden hat.

Neutral ohne neutral zu sein heißt im Klartext: Schein-neutral.

Die Frage ist: wer soll, wer kann durch diesen Schein getäuscht werden? Wurde 1955 etwa schon die UdSSR von den USA, F, GB und Österreich dahingehend getäuscht?

Eher nicht. Aber die Auslegung der Neutralität durch das politische Establishment Österreichs hatte zumindest in früheren Jahrzehnten eine größere Bandbreite als zur Zeit.

Kreisky hat eine international angesehene "aktive Neutralitätspolitik" betrieben und sich vielfältig als Vermittler und Friedensstifter engagiert. Das war gestern. So eine Rolle liegt Schallenberg und VdB offensichtlich fern. Heute ist die Neutralität im österreichischen Mainstream geschrumpft auf den Verzicht einer unmittelbaren Beteiligung des Bundesheeres an Kampfhandlungen der NATO.

Wer die minimalistische Auslegung der Neutralität kritisiert (keine österreichischen Soldaten auf Seiten der Ukraine - so "neutral" ist zur Zeit sogar die NATO - im übrigen aber völlige Unterwerfung unter die US-Geopolitik) hat die spezifische österreichische Neutralität einfach falsch verstanden: so oder noch kritischer gegenüber der Neutralität ("überholt") zu lesen von Kolumnisten und redaktionskonformen Postern / Leserbriefschreibern unserer Qualitätsmedien.

***

Unter einem nickname mische ich mich zuweilen mit dem einen oder anderen Statement in die community des STANDARD-Forums. Mich interessiert, wie diese community tickt.

Im Lauf der Zeit hat sich mir dabei ein Cluster von Merkmalen des am häufigsten auftretenden STANDARD-Posters aufgedrängt: Student oder Akademiker (eher Kommunikationswissenschafter als Maschinenbauer); urban (Verachtung der Provinz); Zentralist (die Selbständigkeit der Bundesländer ist ein Gräuel); grün; wirtschaftsliberal; "links" (aber ohne plebs); Zivildiener (aber militant); transatlantisch (für US-Demokraten, gegen Republikaner); russophob; vegetarisch; für freilaufende Wölfe und Bären auf Österreichs Almen; alle Äußerungen eingebettet in die unerschütterliche Überzeugung von der eigenen intellektuellen und moralischen Überlegenheit.

Die Steuerung des Forums durch den STANDARD beschränkt sich nicht auf die Zensur unzivilisierter Äußerungen, sondern folgt einer spezifischen politischen Korrektheit. Gewaltaufrufe gegen die richtige Seite zB erregen keinen Anstoß. So ist in diesem Forum zum Beispiel erlaubt, die "Vernichtung Russlands" zu fordern. Nicht veröffentlicht hingegen wird die sarkastische Frage an diesen Poster, warum er sich nicht als Söldner in der Ukraine an der Vernichtung Russlands beteiligt, statt dies von seiner Couch aus von anderen / von den Ukrainern zu fordern.

Die Militanz der Couchkrieger mag unterschiedliche Ursachen haben. Eine davon halte ich für gewiss: es ist eine Generation, die Krieg und Kriegsfolgen nicht unmittelbar verspürt hat.

Meine Generation ist aufgewachsen in Familien, deren Väter, Onkeln im 2. Weltkrieg gefallen sind, verwundet wurden oder heil davon gekommen sind, körperlich zumindest. In Familien, deren Mitglieder ermordet wurden, in Familien, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind oder vertrieben worden waren, in Familien, deren Kinder in Flüchtlingslagern aufwuchsen.. Für meine Generation war der Krieg und waren die Kriegsfolgen noch sehr nahe.

"Nie wieder Krieg" hörte und las ich oft in meiner Kindheit und Jugend. Später hieß es, die EU sei ein einzigartiges Friedensprojekt. Für den Beitritt Österreichs zu dieser EU habe ich am 12. Juni 1994 gestimmt. Was für ein Wunschdenken.

Das 1945 beschworene Tabu des Krieges hat in Europa keine zwei Generationen gehalten. Statt in Jugoslawien zu vermitteln, haben EU und NATO den Konflikt geschürt, Nationalisten zur Sezession ermuntert und schließlich selbst militärisch eingegriffen, um Jugoslawien in handhabbare Stücke zu zerschlagen.

In der Ukraine steht eine unmittelbare militärische Beteiligung der NATO-EU noch an. Fakt ist: Weder EU noch NATO haben eine friedliche Konfliktlösung angestrebt, im Gegenteil. Sie haben sie sabotiert, wie der ehemalige israelische Premierminister Bennett als unverdächtiger Dritter bezeugt:

Auf die Frage, ob die westlichen Verbündeten die Initiative letztlich blockiert hätten, antwortete Bennett: "Im Grunde genommen, ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht." Sein Fazit: "Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten" [Berliner Zeitung]

Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben [G. W. F. Hegel, Werkausgabe Suhrkamp Bd. 12, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 17]

Ergänzung 13. 02. 2023

Österreich will keine ukrainischen Soldaten am Kampfpanzer Leopard 2 ausbilden. Das bekräftigte Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber dem Ö1-Morgenjournal [ORF]

Was einem antiquierten Österreicher wie mir selbstverständlich erscheint, findet den Einwand eines progressiven Völkerrechtlers:

Wenn man nun ukrainische Soldaten nicht ausbilde, dann "macht man es aus politischen Gründen", sagte er in Anspielung auf die heikle innenpolitische Diskussion über die Neutralität. "Wir leben lieber diesen Rest an Neutralität, anstatt dass man die Grenzen austestet, die das Recht nicht ganz so eng sieht", so Janik [ORF]

"Nicht ganz so eng" sehen das die Grünen. Ihr ehemaliger Parteivorsitzender, Wehrdienstvermeider, zur Zeit Präsident und Oberbefehlshaber des Bundesheeres, empfängt heuer keine Diplomaten aus Russland, Belarus und aus dem Iran und gebärdet sich tagtäglich wie der Präsident eines NATO-Landes.

***

Auch die katholische Kirche Österreichs stellt sich fraglos unter die NATO-Flagge. Sie präsentiert sich fortschrittlicher als der Papst - Der Ukrainekrieg sei zu komplex um zwischen "Guten und Bösen" zu unterscheiden, sagt Papst Franziskus [FAZ]; dieser Papst kommt halt aus Südamerika - und beschränkt ihre Beziehungspflege auf die Ukraine:

Yuriy Kolasa, Generalvikar für die katholischen Ostkirchen in Österreich, besucht im Auftrag von Kardinal Christoph Schönborn ab Montag eine Woche lang die Ukraine. Er wird unter anderem die von Schönborn gesegneten Rettungsfahrzeuge übergeben. Auf dem Programm stehen außerdem der Besuch karitativer Einrichtungen und Begegnungen mit Bischöfen verschiedener Kirchen, wie die Erzdiözese Wien am Sonntag in einer Aussendung mitteilte. "Ich bin dankbar, dass Generalvikar Kolasa mit einer Gruppe in den nächsten Tagen in die Ukraine fährt, um unsere Solidarität zu zeigen und Bischöfe sowie Gemeinden zu besuchen. Damit bringen wir zum Ausdruck, wie sehr wir mit diesen Menschen verbunden sind, dass wir an sie denken und für sie beten", so Kardinal Schönborn [ORF]

Immerhin hat der Kardinal nur Rettungsfahrzeuge gesegnet und keine Panzer wie in der guten alten Zeit. Der Papst aus Polen hingegen, der Vorvorgänger von Franziskus, hätte wohl auch mit der Segnung von NATO-Panzern kein Problem gehabt.

***

Das von den "Putin-Sisters" (STANDARD) Wagenknecht und Schwarzer initiierte "Manifest für den Frieden" fordert von der deutschen Regierung die Einstellung der Waffenlieferungen und eine Initiative zur Vereinbarung eines Waffenstillstands zur Aufnahme von Friedensverhandlungen.

Unter den Erstunterzeichnern: Dr. Peter Gauweiler (CSU), Michael von der Schulenburg (UN-Diplomat a. D.), Dr. Erich Vad (Brigadegeneral a. D.), Günther Verheugen (Ex-Vizepräsident der EU-Kommission), Dr. Antje Vollmer (Ex-Vizepräsidentin des Bundestages)... lauter Demokratiefeinde und "Putin-Buddies".

Die wütendsten Angriffe gegen das Manifest und dessen Initiatorinnen kommen aus dem grünen BOBO-Milieu (taz)

Dem Aufruf der "Putin-Sisters" namentlich angeschlossen haben sich schon über 400.000 Menschen. Gegen die NATO-Propaganda auf allen Kanälen kommen sie natürlich nicht auf.



HOME  COME IN
GARDEN  ARTICLES