Gut und bšs

31. 12. 2022

Der Opportunist wedelt mit der Zunge

Quadbeck-Seeger

Ist das Hirn zu kurz gekommen, wird sehr gern Moral genommen

Wiglaf Droste

Der Vorsitzende der MŸnnchner Sicherheitskonferenz und ehemalige Berater von Kanzlerin Angela Merkel

Christoph Heusgen hat Fehler in der Russland-Politik wŠhrend seiner Amtszeit eingerŠumt. Zwar sei durch die Pipeline Nord Stream 2 nie Gas gestršmt, "aber wenn Sie mich fragen - ja, im Nachhinein war das ein Fehler", sagte Heusgen der "Welt am Sonntag" [ZDF, 31. 12. 2022]

Nur eine Handvoll oppositioneller Politiker in der EU hat die Sprengung von Nordstream 2 als Anschlag auf Europas autonome Energieversorgung verurteilt. Keine Regierung eines EU-Staates scheint an der AufklŠrung interessiert. Wahrscheinlich waren es eh die Russen, auch wenn der frŸhere polnische Au§enminister sich enthusisastisch bei den USA bedankt hat.

Merkel hat jŸngst geŠu§ert, die Minsker Vereinbarungen und die jahrelangen, erfolgosen GesprŠche zu ihrer Umsetzung hŠtten dem Zeitgewinn zur AufrŸstung der Ukraine gedient. Der "Westen" habe die Vereinbarungen nie ernst genommen.

Dieser Darstellung - egal, ob GestŠndnis oder opportunistische Umdeutung - hat sich mittlerweile auch der ehemalige franzšsische PrŠsident Hollande angeschlossen.

Als "Finte" lŠsst die Errichtung von Nordstream sich hingegen schwer verkaufen. Heusgen bleibt daher nichts anderes Ÿbrig, als die Sprengung von Nordstream 2 zur nachhaltigen Korrektur eines Fehlers zu erklŠren.

Angesichts solcher Schuld-Bekenntnisse / solch schŠbiger Umdeutungen erscheint die wohl tiefste Spaltung Kontinental-Europas in seiner Geschichte vollzogen. Regie haben dabei die USA und GB gefŸhrt. Die EU-Schafherde hat freudig geblškt.

Die Folgen sind zunehmend sichtbar.

"Kein deutscher Konzern unter den Top 100" berichtet die ARD.

Unter den 100 wertvollsten Bšrsenunternehmen der Welt ist einer Studie zufolge kein deutsches mehr zu finden. US-Konzerne dominieren das Ranking mehr denn je, obwohl Technologiefirmen in den vergangenen Monaten stark an Wert verloren haben. Die Vereinigten Staaten hŠngen Europa trotz gro§er Kursverluste von US-Techkonzernen an der Bšrse ab. Von den 100 wertvollsten bšrsennotierten Unternehmen der Welt kommen laut einer Studie der Unternehmensberatung EY alleine 61 aus den USA, nur eins weniger als im Vorjahr... Der Softwarehersteller SAP rangiert als wertvollstes Konzern aus dem DAX nur auf Platz 106. Der Industriegaskonzern Linde, der seit der Fusion mit der US-amerikanischen Praxair in Irland ansŠssig ist, belegt Rang 59... Laut EY haben nur 15 der 100 grš§ten Bšrsenunternehmen ihren Sitz in Europa, wertvollster Vertreter ist demnach der franzšsische Luxuskonzern LVMH auf Platz 15. Aus Asien kommen 19 der grš§ten bšrsennotierten Konzerne, angefŸhrt vom Techkonzern Tencent. Die Bedeutung Europas an der Bšrse ist seit Jahren rŸcklŠufig. Ende 2007, vor dem Hšhepunkt der Finanzkrise, kamen laut EY noch 46 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt aus Europa und immerhin sieben aus Deutschland. Ende 2021 waren es noch zwei: SAP und Siemens.

2007... Die letzte Chance fŸr ein autonomes Europa mit einem enormen škonomischen und politischen Potential wurde vermutlich bei der MŸnchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 vertan. Die hartnŠckige Osterweiterung der NATO und die Errichtung amerikanischer Stationen fŸr ein "Raketenabwehrsystem" in Osteuropa haben Putin veranlasst zu erklŠren, dass Russland sich bedroht fŸhle. Der Westen reagierte "befremdet": Russland werde nicht bedroht. Das war gelogen.

Wer sich bedroht fŸhlt bestimmt der Bedrohte, nicht der als Bedroher Empfundene. Bei jeder BelŠstigung gilt dieses Prinzip. Statt sich souverŠn mit Russland Ÿber ein Sicherheitssystem in Europa zu verstŠndigen, sammelten die EU-Schafe sich hinter den USA. Ungehindert setzten diese ihre divide-et-impera-Politik fort. Mit dem Putsch in der Ukraine 2014 gelang ihnen ein entscheidender Durchbruch. Der derzeitige Krieg festigt dieses Ergebnis auf unabsehbare Zeit.

Die Verantwortlichen in der EU haben nicht die Autonomie, sie haben den Vasallenstatus gewŠhlt. Das behindert die škonomische Performance der EU und beschrŠnkt ihren politischen Spielraum. Die geopolitischen Hauptrollen sind von den USA und China besetzt. Europa hat beim Casting versagt.

So lŠsst sich das den EU-BŸrgern aber schwer vermitteln. Um ihre UnfŠhgikeit, ihre Feigheit und ihre Darmakrobatik gegenŸber den USA vor den BŸrgern zu verschleiern, hat die EU-Nomenklatura einen SŸndenbock parat. Russland, das Reich des Bšsen, ist fŸr diese Misere allein verantwortlich.

Was Menschen fŸr "gut" und was sie fŸr "bšse" halten ist unterschiedlich bis gegensŠtzlich. Das ist eine schlichte empirische Tatsache: was etwa ein Russe in der Ostukraine "gut" findet, hŠlt ein Asow-Nazi fŸr "bšs" und umgekehrt. Solche Zuschreibungen haben wenig mit praktischer Moral zu tun ("was du nicht willst, das man dir tu, das fŸg' auch keinem andern zu"). Es geht vielmehr um die quasi-religišse VerbrŠmung unterschiedlicher weltlicher Interessen.

Die eigenen Interessen werden mit der metaphysischen Kategorie "gut" gerechtfertigt, die des Widerparts mit "bšs" satanisiert.

Das fŸhrt in eine kommunikative Sackgasse. Politik auf dieser kindischen Ebene kann zu keinen Verhandlungslšsungen / zu keinen Kompromissen kommen. "Gut" und "Bšse" sind Anleitungen fŸr das blindwŸtige Verfolgen von Interessen.

Wo immer die herrschende Politik auf dieses Niveau sinkt, stšrt die kritische Reflexion von Sachverhalten in der Bevšlkerung ihre Kreise. Der Staatsapparat braucht Menschen zur Umsetzung der Interessen, denen er dient. Er muss Skepsis gegen diese Interessen neutralisieren und Widerstand unterbinden.

Die emotionsgeladene Verteufelung des Gegners ist vermutlich das effektivste Mittel (1), Menschen in Konflikten / im Krieg bei der Stange zu halten. Medien, die dieser Aufgabe nachkommen, sind Instrumente des jeweiligen Establishments. Diese Medien dienen nicht der AufklŠrung, sondern der Verdummung.

(1) Die erfolgreiche Gestaltung der Wahrnehmung von "wir" und "sie" in der Bevšlkerung in die vom Establishment gewŸnschte Richtung ist in der Regel ein effektiveres Herrschaftsinstrument als die offene UnterdrŸckung abweichender Sichtweisen durch Strafandrohung / GefŠngnis. Unternehmen und Staatsapparate haben dazu public-relations-Techniken wie Sprachregelungen, bestimmte Konnotationen, rastlose Wiederholung etc mithilfe von Psychologen, Soziologen und Politologen zur Perfektion entwickelt. In Verbindung mit einer entsprechenden Personalpolitik in den Leitmedien funktioniert dies meist hervorragend. Im Krieg der NATO gegen Jugoslawien war diese "softe" Form der medialen Gleichschaltung so gut zu beobachten wie gegenwŠrtig. - Ganz ohne Verbote freilich geht es nicht: das Abhšren von "Feindsendern" und das Verbreiten von Gegenpropaganda wird jedenfalls unterbunden / unter Strafe gestellt.



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