Diskussion zu "Allianz für Europa"

29. 11. 2022

Einen Diskussionsinput in Form eines "Manifestes" erstellen für ein Publikum, das vermutlich an einem "einigen, starken Europa mit definierten Eigeninteressen... ohne Anhängsel eines anderen Players zu sein" interessiert ist - so die überraschende Aufforderung eines politisch aktiven Freundes.

Ich habe gezögert. Ich weiß nichts über die Positionen und Interessen der Diskutanten. Ich kenne weder ihr organisatorisches und politisches Potential noch ihre Einwände, ihre Vorbehalte gegen meine Sicht auf Europa.

Ziele, Vorgangsweisen und Schwerpunkte einer "Allianz für Europa" zu formulieren erfordert spezifische Kompetenzen in den Handlungsfeldern Politik, Ökonomie, Militär, Diplomatie, Medien... Das ist keine beiläufige Aufgabe. Nur eine gut moderierte Gruppe von sachkundigen Menschen mit Erfahrung in diesen Handlungsfeldern kann das leisten.

Ich stelle diesen knappen Diskussionsinput daher im Bewusstsein zur Kritik, dass Personen, die im Detail kompetenter sind als ich, Mängel / Fehler / Unschärfen / verbesserbare Formulierungen finden werden - falls sie überhaupt in die europapolitische Richtung gehen wollen, die ich für zweckmäßig halte.

Anlass

Die Lage in Europa ist prekär. Der Krieg in der Ukraine vernichtet Tag für Tag Leben und Wohlstand und belastet alle Europäer. Die Wirtschaft Europas büßt Potential ein, verliert an Wettbewerbsfähigkeit und Standort-Attraktivität. Die Kluft zwischen der EU und Russland scheint unüberbrückbar. Innerhalb der EU und der Staaten Europas nehmen politische und soziale Spannungen zu, die sich an diesem Krieg, seinen Folgen aber auch an Themen wie der anhaltenden Migration aus nicht-europäischen Kulturen entzünden.

Wir wollen uns damit nicht abfinden.

Wer wir sind

Wir sind Menschen aus xx Ländern Europas. Wir kommen aus unterschiedlichen Berufs- und Lebensbereichen der Wirtschaft, der Politik und der Kultur. Wir haben unterschiedliche Interessen, wählen unterschiedliche Parteien, gehören unterschiedlichen Konfessionen an.

Ungeachtet dieser Unterschiede eint uns

> die Vorstellung von einem autonomen, einigen und starken Europa mit klar definierten Eigeninteressen, das vom Atlantik bis zum Arktischen Ozean reicht

> die Selbstverpflichtung, auf dem Weg zu diesem Ziel unterschiedliche politische und kulturelle Verhältnisse in den Staaten Europas wechselseitig zu respektieren, auf die Kraft einer friedlichen ökonomischen Integration zu setzen und Interessenskonflikte nicht durch Gewalt, sondern durch Verhandlungen auszutragen.

Was uns bewegt

Schon 1945 schien es, als hätten die Völker Europas zumindest gelernt, ohne "heißen" Krieg miteinander auszukommen. Nach dem Ende des Kalten Krieges, des Bankrotts der Sowjetunion und dem Rückzug Russlands auf historisches Territorium wurde eine "Friedensdividende" ausgerufen. Der Warschauer Pakt löste sich auf. Die ehemaligen Ostblockstaaten erlangten nationale Souveränität. Die Militärausgaben gingen zurück,. Die NATO versprach keine Erweiterung nach Osten und das "Gemeinsame Haus Europa" erschien als realistische Perspektive.

Aber es kam anders.

Da und dort brachen Bürgerkriege aus. Die NATO erweiterte sich nach Osten und bombte den Kosovo aus dem serbischen Staatsverband. Der Westen zeigte den Annäherungsversuchen Russlands nach anfänglichem Beifall (Rede Putins im Deutschen Bundestag am 25. 9. 2001) zunehmend die kalte Schulter.

Mit dem Sturz und der Vertreibung des gewählten Präsidenten der Ukraine, nach der Besetzung der Krim durch Russland und nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen den ethnischen Russen im Osten der Ukraine und der neuen ukrainischen Regierung brach eine Eiszeit aus zwischen Russland und dem Westen. Das völkerrechtlich verbindliche Minsker Abkommen, das ein Procedere zur Föderalisierung der Ukraine vorsah, schien eine friedliche Konfliktlösung zu bieten, wurde von den ukrainischen Funktionsträgern aber nicht umgesetzt.

Das Beharren des Westens unter Führung der USA, der Ukraine eine Perspektive zur Aufnahme in die NATO zu bieten interpretierte Russland als definitive Verweigerung eines vertraglich geregelten Sicherheitssystems in Europa. Russland anerkannte die Gebiete der Separatisten als selbständige Staaten, nahm sie in die eigene Föderation auf und marschierte in Regionen ein, die von den Separatisten beansprucht werden. Seither tobt ein Stellungskrieg mit minimalen geographischen Verschiebungen zwischen der Ukraine und Russland.

Aufgrund der beispiellosen Unterstützung der NATO-Staaten mit Waffen, Munition, Söldnern, militärischer Ausbildung, Anleitung und Aufklärung und mithilfe enormer Geldmittel aus der EU und den USA ist die Ukraine in der Lage, Widerstand zu leisten. Die ukrainische Regierung will alle besetzten Gebiete einschließlich der Krim zurückerobern und wird in diesem Vorhaben von der NATO unterstützt.

Wann und auf welcher Linie dieser Krieg endet ist nicht absehbar. Nicht einmal ein Waffenstillstand ist in Sicht. Wenn man von der Eskalation zum Atomkrieg absieht ist das wahrscheinlichste Ergebnis eine Demarkationslinie quer durch Europa, ein neuer Eiserner Vorhang.

Für den Bau dieser europapolitischen Sackgasse waren Handlungen und Unterlassungen europäischer Staatsführer und Funktionsträger zum Teil verantwortlich. Ausschlaggebend waren geopolitische Interessen der USA und das Missfallen von GB und USA an einem starken, geeinten Kontinentaleuropa. Europäische Bruchstellen entlang nationalistischer Ressentiments wurden und werden von GB und den USA dazu erfolgreich benutzt. Im Rahmen der "transatlantischen Freundschaft" werden US-Interessen von vielen EU-Politikern beflissen mitgetragen.

Wir halten die Unterordnung europäischer Interessen unter die geopolitischen Ziele der USA für falsch und die damit einhergehende Unterbindung eines kooperativen Verhältnisses zwischen EU-Staaten und Russland für fatal. Dieser verengten Europa-Idee anzuhängen ist selbstschädigend. Ungeachtet nationaler Unterschiede und Differenzen ist die bestmögliche Option für Kontinental-Europäer die gewaltfreie Koexistenz und die gedeihliche Kooperation aller Völker, die Europa zwischen dem Atlantik und dem Arktischen Ozean besiedeln.

Was wir wollen

Zur Realisierung dieser Zielvorstellung halten wir für unabdingbar

> ein selbständiges kontinental-europäisches Sicherheitssystem. Grundlage dafür ist ein Vertrag zwischen allen europäischen Staaten, der wechselseitigen Respekt, Verzicht auf Gewalt und ein Streitbeilegungsverfahren festschreibt.

> eine rein kontinentaleuropäisch geführte Verteidigungsgemeinschaft. Sie kann mit den USA und Großbritannien kooperieren, ist aber von GB und den USA völlig unabhängig.

> Ein europaweiter Wirtschaftsraum ist Voraussetzung für ein autonomes und starkes Europa, das auf keine außereuropäische Schutzmacht angewiesen ist. Diesen Raum unter wechselseitigem Respekt vor den sicherheitspolitischen, ökonomischen und kulturellen Interessen der Teilnehmerstaaten zu entwickeln erachten wir als prioritär. Die Bedingungen für eine Teilnahme an diesem Raum beschränken sich auf die ökonomische und rechtliche Funktionalität der Kooperation. Zusätzliche politische Bedingungen sind unzulässig und widersprechen dem Prinzip des wechselseitigen Respekts. Nur auf dieser Basis kann sich längerfristig Vertrauen zwischen den Völkern und daraus eine funktionierende politische Union entwickeln.

> Die Entwicklung dieses Raumes ging nach der Auflösung des Warschauer Pakts gut voran, wurde 2014 eingebremst und ist nun auf unabsehbare Zeit unterbrochen. Die Sprengung der Nordstream-Pipeline ist ein unmissverständlicher Angriff auf diese Entwicklung und eine massive Verletzung elementarer Eigeninteressen Kontinentaleuropas.

> Die Emanzipation der EU aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gegenüber den USA ist eine wesentliche Voraussetzung für ein autonomes, geeintes und starkes Europa quer über den Kontinent.

> Diese Emanzipation verstehen wir nicht als Konfrontation gegenüber den USA. Wir lehnen die Unterordnung der Interessen Kontinentaleuropas unter die geopolitischen Interessen der USA ab, nicht aber die punktuelle Partnerschaft mit den USA in Wirtschaft, Politik und Kultur.

Was wir tun

Das ist wohl der schwierigste Abschnitt. Man darf sich darum nicht herumdrücken, will man sich nicht mit dem Wünschen begnügen. Man muss aber auch nüchtern bleiben: eine erfolgreiche Allianz für ein autonomes, einiges und starkes Europa quer über den Kontinent ist angesichts der aktuellen politischen Zustände und Kräfteverhältnisse vorderhand mehr Illusion als Vision. Auf Sicht sind nur kleine Schritte möglich. Bei einer Änderung der weltpolitischen Lage freilich kann sich unverhofft ein Fenster öffnen. Darauf sollte man vorbereitet sein.

Gerade in diesem Abschnitt muss der Text von Teilnehmern formuliert werden, die im Detail sachkundig sind und ihren Handlungsspielraum abschätzen können: welche finanziellen, organisatorischen, personellen Ressourcen stehen wem zur Verfügung für Öffentlichkeitsarbeit, Seminare, Konferenzen, Jugendarbeit, Lobbyismus etc

Der Realisierung unserer Vorstellung von einem autonomen, geeinten Europa vom Atlantik bis zum Arktischen Ozean stehen Hindernisse entgegen, die gegenwärtig unüberwindbar scheinen:

> ein nachhaltig zerrüttetes Verhältnis zwischen der EU und Russland aufgrund des Kriegs in der Ukraine

> historisch belastete nationale Ressentiments vor allem in Polen, in der Ukraine und im Baltikum, geschürt und genützt von der Teilungsstrategie ("neues und altes Europa" - Donald Rumsfeld) und der Konfrontationspolitik von USA und GB gegen Russland

> die Führungsrolle der USA in der NATO und die massive militärische Präsenz der USA in Europa

> die beschränkte Souveränität Deutschlands gegenüber den USA (kein Friedensvertrag)

> die politische und ökonomische Schwächung der EU und die verstärkte Abhängigkeit der EU von den USA im Gefolge des Krieges (Energie, Wettbewerb, Standort, Rüstung...)

> die Dominanz transatlantisch positionierter Funktionsträger in Politik, Medien und Kultur in den Staaten der EU

In dieser Situation werden wir

> bei allen ökonomischen und politischen Diskussionen die Eigeninteressen der Bürger Kontinental-Europas in Ost und West herausarbeiten und unermüdlich öffentlich ansprechen

> in den unterschiedlichen von uns präferierten Parteien jene Kräfte suchen und stärken, die für ein autonomes, geeintes Europa ansprechbar und zu gewinnen sind

> in allen Ländern Europas für die Versöhnung der Nationen eintreten. Wir haben Verständnis für nationale Interessen aber kein Verständnis für nationalistische Überlegenheitsideologien, für das Verbot von Sprachen, für die Zerstörung von Kulturgütern oder für missionarische Ambitionen einer Nation

> in den USA jene Kräfte ansprechen und mit ihnen kooperieren, die Verständnis für die Partnerschaft mit einem autonomen Europa aufbringen und der Konfrontationspolitik gegenüber Russland distanziert gegenüberstehen

> ....

> ....

> ....

***

Ob sich Personen aus möglichst vielen Ländern Europas zu einer "Allianz für Europa" zusammenfinden? Ob sie mit einem Grundsatzpapier / einem Programm an die Öffentlichkeit treten? Bleiben die "Autonomisten" unbeachtet / unbedeutend oder sind sie in der Lage, politische Relevanz zu erlangen?



HOME  COME IN
GARDEN  ARTICLES