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Eine "Allianz für Europa"? |
26. 10. 2022 Faszination Meine Kindheit und Volksschulzeit im besetzten Österreich habe ich im amerikanischen Sektor verbracht. Unser Schulweg führte durch den Bindermichl. Vor den Blöcken, in denen amerikanische Offiziere wohnten, standen chromblitzende Autos mit kühnen Kühlerfiguren und bunten Wappen am Heck. Ehrfürchtig berührten wir sie und buchstabierten die Namen der wunderbaren Fahrzeuge: Ford, Cadillac, Chevrolet, Buick, Plymouth, D-o-d-g-e... In den Torbögen der Hitler-Bauten lehnten lässig GIs mit umgehängter MP und einer Lucky Strike im Mundwinkel, die sie nur zur Hälfte rauchten und dann auf die Straße schnippten. Die Militärpolizei, von weitem erkennbar an ihren weiß gebänderten Helmen, patrouillierte im Jeep oder auf einer blubbernden, olivfarbenen Harley Davidson mit Beiwagen. Für die Amerikaner gab es eigene Geschäfte, eine Eisbar, einen gelben Schulbus mit Schülern, die ihre Bücher mit einem Riemen zusammenhielten. Auf den Grünflächen rauften rothaarige Buben um einen eiförmigen Ball oder droschen eine weiße Kugel mit einem Holzknüppel in die Gegend. Sie sprachen "mit einem Knödel im Mund". In den Mistkübeln dieser Blöcke wurden wir zuweilen fündig, und kamen so etwa zu kaputten, zum Spielen aber noch brauchbaren Wasserpistolen. Zu Weihnachten funkelten am Bindermichl bunte Lichterketten. Am Ende der Ramsauer Straße leuchtete ein hoher Weihnachtsbaum, flankiert von einem etwa fünf Meter hohen, hell angestrahlten Santa Claus aus Sperrholz. Einmal stellten die Amerikaner im Hummelhofwald Kanonen und Panzer zur Schau. Freundliche Soldaten erlaubten uns, hinein zu klettern. Es war sehr eng darin. Der Vater eines Freundes war Hausmeister bei den Amerikanern. Er brachte Stöße von ausgelesenen Comics heim und sehr interessante, illustrierte Warenhauskataloge. Wir waren fasziniert: Die Amerikaner konnten aus einer Fülle abgebildeter Gewehre und Pistolen wählen und sich diese mit der Post zustellen lassen. Batman, Superman haben wir bewundern, Donald und Pluto lieben gelernt, ohne ein Wort Englisch zu verstehen. BAM! CRASH! ZZZ... und OOPS! waren oft klar genug. Wir spielten Cowboys und Indianer, schlüpften in die Rollen von Buffalo Bill, Gene Autry und Roy Rogers, die wir alle nur von Bildern kannten. Bei meinem ersten Aufenthalt in den USA in den achtziger Jahren war ich geradezu gerührt, auf eine Fast-Food-Kette "Roy Rogers" zu stoßen. Die ersten Filme meines Lebens waren amerikanische "Trickfilme" mit Popeye, Donald Duck oder Woody Woodpecker im OP-Kino in Linz. Meine Mutter hat mich dorthin mitgenommen, wenn sie die Wochenschau sehen wollte. "FOX' tönende Wochenschau" brachte u. a. Berichte vom Korea-Krieg. Auf einem YMCA-Kinder-Camp habe ich den ersten "wirklichen" Film gesehen: einige Episoden mit Charly Chaplin. Auch nach dem Abzug der Amerikaner blieben wir ihnen treu. Als Zwölfjährige haben wir uns in Western mit James Stewart, Audie Murphy, Richard Widmark oder Gary Cooper geschwindelt. John Wayne hingegen war mir schon damals unsympathisch. Aber auch in seinen Filmen haben mich die grandiosen Landschaften und Weiten der USA sehnsüchtig gemacht. Mit 12 war ich stolzer Besitzer "echter" Blue-Jeans. Leider keine Levi´s, aber immerhin eine Wrangler. Deutsche Schlager haben wir verachtet. Wir drehten den Sender-Knopf am Radio bis zur Ansage "This is Radio Luxembourg - Your Station of the Stars". Wir hörten Country-Musik in der Sendung "Das Lied der Prärie" mit Conny Tex Hat, liebten den Riff Duane Eddy´s in der Kennmelodie von "Hallo Teenager" und sammelten selbst Platten von Fats Domino, den Everly Brothers, Bill Haley, Chuck Berry, Little Richard, Elvis Presley, Jerry Lee Lewis, Buddy Holly, Eddie Chochran, Ricky Nelson... Erst mit den Beatles und den Stones erreichte Europa unseren Geschmack. John F. Kennedy hat mich beeindruckt: Ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country. In der Kuba-Krise 1962 war ich optimistisch: Kennedy würde das nicht zulassen. Tatsächlich zogen die Russen sich zurück. Es kam zu keinem Atomkrieg. Differenzierung Eine so naive Aneignung und Akzeptanz von Symbolen und kulturellen Maßstäben des Siegers aus Übersee haben unzählige Kinder und Jugendliche in Europa vollzogen - nicht nur in meiner Generation. Reicht das aus, um zu erklären, warum selbst viele Europäer die USA für die "auserwählte Nation" halten? Warum Europäer in den USA ihre Schutzmacht vor dem Bösen und den alleinigen Hort der Demokratie sehen? Warum Europäer die Interessen der Vereinigten Staaten für die eigenen halten und sich freiwillig diesen Interessen unterordnen? Warum Europäer den USA im Unterschied zu anderen Nationen alle Übeltaten nachsehen? Hat es nach 1945 nicht genug Ereignisse gegeben, die eine kritische Wahrnehmung der USA und ihrer Außenpolitik erfordert haben? Zurück zur Kubakrise: Allmählich erst sickerte durch, dass Kennedy sich jenen Beratern widersetzt hatte, die einen Präventivschlag gegen die Sowjetunion führen wollten. Im Geheimen hatte er auch den Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba mit dem Abzug der amerikanischen Jupiter-Raketen aus der Türkei abgetauscht. Freunde im militärisch-industriellen Komplex der USA hatte er damit nicht gewonnen. Die Ermordung Kennedys im Jahr darauf und der prompte Mord an seinem angeblichen Mörder ließen viele Fragen offen. Zwei Drittel der US-Bürger halten nichts von der offiziellen Version. Die meisten Amerikaner verstehen was vom Schießen und glauben nicht an die magische Kugel. Im Rückblick wurde dieses Attentat zu einem Wendepunkt in meinem Verhältnis zu den USA. Der Mord an Kennedy und der Vietnam-Krieg schärften meine politische Aufmerksamkeit. Ich lernte zu unterscheiden zwischen dem, was ich an Amerika liebte, was mir an den USA vorbildlich schien und was mir zunehmend zweifelhaft bis ablehnungswürdig vorkam. Sollten Europäer daher nicht trotz ihrer Sympathie für eine lange Liste amerikanischer Ikonen von Coca Cola bis zum iPhone erkennen, dass der Krieg zwischen Russland und der NATO unter Führung der USA auf dem Gebiet der Ukraine Europa nachhaltig schädigt? Dass dieser Krieg weder den Ukrainern noch den Russen nützt, auch keinem anderen Volk Europas, das diese Vernichtung von Leben und Wohlstand unterstützt und mitfinanziert? Dass allein die USA aus diesem Stellvertreter-Krieg Nutzen ziehen? Dass die USA damit Russland schwächen, die EU als ökonomischen Konkurrenten schwächen und Europa westlich von Russland ökonomisch und politisch auf Gedeih und Verderb an sich binden: als eine von Vasallen regierte Kampfzone für ihr erklärtes Ziel "alleinige Weltmacht" zu sein?
> Warum fügen Europäer sich in diese erbärmliche Rolle? Westernization Zu dieser neu entfachten Eroberungslust haben die USA kräftig beigetragen. Sie haben die "Westernization" der 1945 Besiegten mithilfe des Marshall-Plans, mithilfe einer Reihe von Institutionen, Plattformen und Netzwerken vorangetrieben: Fulbright-Stipendien oder Ausbildungs- und Vernetzungsangebote von Einrichtungen wie der Atlantik-Brücke etwa haben schon mehrere Generationen von Politikern, Journalisten, Wissenschaftern und Kulturmanagern hervorgebracht, die den USA besonders dankbar verbunden und freundlich gesinnt sind. Diese Personen bezeichnen sich selbst stolz als "Transatlantiker". Die von den USA über siebzig Jahre gezielt vorangetriebene "Westernization" in ihrem europäischen Einflussbereich war sehr erfolgreich und reicht über Musik, Film und US-Serien in jeden Haushalt. Vor allem aber sind die politischen, medialen und kulturellen Führungspositionen in vielen europäischen Staaten nach und nach von Transatlantikern eingenommen worden. Dies gilt in erster Linie für Deutschland, das bis heute ein besetztes Land ohne Friedensvertrag mit den USA geblieben ist. Die Transatlantiker haben ihre Karriere und ihre persönlichen Interessen so sehr mit den USA verknüpft, dass sie geradezu unfähig geworden sind, nationale und europäische Interessen unabhängig von den Interessen der Vereinigten Staaten wahrzunehmen, zu definieren und politisch umzusetzen. Aufgrund ihrer Machtposition in Gesellschaft und Politik sind ihre Wahrnehmungen, Erklärungen und Beurteilungen von politischen Umständen, Verhältnissen und Prozessen zum herrschenden Sinnzusammenhang geworden. Die laufenden Ereignisse betten sie in diesen Sinnzusammenhang ein, artikulieren diese Fixierung in ihrer Rolle als Politiker, Journalisten, politiknahe Wissenschafter und Kulturmanager und formen so das öffentliche Bewußstsein. Alternative europapolitische Konzepte zur US-hörigen Politik der Transatlantiker hat es gegeben: de Gaulles "Europa vom Atlantik bis zum Ural"; die auf Versöhnung ausgerichtete Ostpolitik von Bahr und Brandt; die Vision Gorbatschows vom "gemeinsamen europäischen Haus"; die Initiative europäischer Geschäftskreise zu einem "Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok". Diese Ansätze sind der russophoben Konfrontationspolitik der transatlantischen Vasallen unterlegen. Der Krieg in der Ukraine besiegelt diese Niederlage auf unabsehbare Zeit. Dennoch eine "Allianz für Europa"? Welche Szenarien gibt es theoretisch zur Beendigung dieses Krieges?(1) 1) Das strategische Ziel der USA geht auf. Russland wird besiegt / ruiniert / zerschlagen. - Dann rechnet sich vielleicht ein Teil der gewaltigen Investitionen in diesen Krieg, die die Transatlantiker auf Kosten der Bevölkerung Europas getätigt haben. Die USA werden ihre Vasallen an der Ausbeutung eines wehrlos gemachten Russlands wohl beteiligen. 2) Eine andere US-Regierung vollzieht einen Strategie-Wechsel. Ein Waffenstillstand wird vereinbart, bei welchem Frontverlauf immer. Allenfalls wird über einen Friedensvertrag end- und ergebnislos verhandelt. Ein neuer Eiserner Vorhang senkt sich zwischen Russland und dem westlich davon liegenden Europa wie zwischen Nord- und Südkorea. - Auch von diesem Szenario profitieren hauptsächlich die USA: die ökonomische und politische Abhängigkeit der EU verfestigt sich. Das geschwächte Russland lehnt sich an China an und bleibt als "Feind" Europas nützlich, um die West-Europäer bei der Stange zu halten. 3) Die Europäer besinnen sich auf ihre eigenen Interessen und einigen sich ohne Einmischung der USA mit Russland auf einen friedlichen modus vivendi. - Dieses Szenario ist pure Fantasie. Eine ebenso realitätsferne Vorstellung ist ein Sieg Russlands, das in Kiew den Frieden diktiert.
Macht es dennoch Sinn, am Ziel eines souveränen Europas mit und nicht gegen Russland festzuhalten und dafür zu arbeiten? Iren, Griechen, Serben und viele kolonisierte Völker in anderen Erdteilen haben bis zur wiedererrungenen Souveränität Jahrhunderte lang Widerstand gegen die Besetzung ihrer Länder geleistet, gegen Lakaien und Opportunisten in den eigenen Reihen und mit langen Pausen völliger Aussichtslosigkeit. Wie aber steht es mit solcher Ausdauer beim bunten Völkerpuzzle Europas, das sich so leicht auseinander dividieren lässt? Schlecht. - Wer sich auf das Projekt einer friedlichen, großeuropäischen Einigung einlässt, muss sich mit außerordentlicher Frustrationstoleranz rüsten.
Neu zu erfinden ist die Idee des geeinten Europas nicht. Vordringlich erscheint einem einfachen, europäisch gesinnten Bürger wie mir
Im Augenblick sehe ich niemanden aus der politischen Klasse Europas, der so etwas propagiert, vorantreibt und damit in die Öffentlichkeit geht.
(1) Schließen wir zunächst die Eskalation zum Atomkrieg aus. Allein: Biden ist kein Kennedy und Blinken kein Kissinger. (2) Die europapolitische Orientierung ist grundsätzlich unabhängig von sonstigen politischen Neigungen und Interessen. Transatlantiker oder Europäer kann man als Konservativer, Liberaler, Sozialdemokrat, Grüner, Linker oder Rechter sein. Nur engstirnige Nationalisten passen weder in das eine noch in das andere Konzept. (3) Vermutlich gibt es sogar Balten, Polen und Ukrainer, die Russen nicht als "Orks" (so bezeichnen ukrainische Nazis ihre russischen Mitbürger und Nachbarn), sondern als Menschen wahrnehmen. Ergänzung, 10. November 2022 Du hast auch erwähnt, dass Blinken kein Kissinger ist. Wie wäre es, einen europäischen Kissinger zu nominieren? schreibt mir u. a. ein europapolitisch engagierter Freund. Was könnte ein „europäischer Kissinger“ ausrichten? Wer immer sich dafür anbietet: Ein Mandat mit dem Ziel, für ein friedliches, gar für ein kooperatives Verhältnis zwischen der EU und Russland zu arbeiten („Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok“) und die Versöhnung zwischen Polen, Balten, Russen… zu fördern wird niemand von der EU-Nomenklatura erhalten. Russland muss besiegt / ruiniert / entkolonisiert werden. Allfällige Gespräche gibt es nur, wenn Russland sich bedingungslos und vollständig aus allen Regionen zurückzieht, die vom fremdfinanzierten Staatsapparat der Ukraine als Staatsgebiet beansprucht werden. Ein machiavellistisches Meisterstück, mit einem transatlantischen Glaubensbekenntnis auf den Lippen zu einem Mandat zu kommen und dann für ein "einiges, starkes Europa mit definierten Eigeninteressen... ohne Anhängsel eines anderen Players zu sein" zu arbeiten - das halte ich für ausgeschlossen. Wer so etwas versucht, wird von den USA und den Transatlantikern sofort ausgebremst werden wie Steinmeier mit seinem Kompromissvorschlag 2014 ("Fuck the EU!") und Merkel, Macron und die UNO bei den völkerrechtlich verbindlichen Minsker Vereinbarungen. Eine Richtungsänderung der Europapolitik hin zum „Gemeinsamen Haus“ könnte allenfalls eine partei- und länderübergreifende Bewegung einleiten, die Zustimmung unter den Völkern Europas findet. Nur eine Bewegung, die sich offen und selbstbewusst diese Souveränität zum Ziel setzt ist in der Bevölkerung wahrnehmbar, kann das Potential für ihr Anliegen ansprechen und nach und nach verbreitern. Ein erster Schritt dazu wäre etwa das Outing prominenter Persönlichkeiten aus verschiedenen Parteien und Ländern Europas, die mit einem gemeinsamen Programm für ein souveränes Europa aus der Deckung kommen. Freilich: wer unmißverständlich gegen die transatlantische Verengung der Europa-Idee auftritt, riskiert Delegitimierung, Reputation, Karriere und muss mit allem rechnen, was gegen ihn / gegen sie in Stellung gebracht werden kann: persönlich, politisch, iustiziell („Lawfare“). Das ist wohl mit ein Grund dafür, dass eine entschlossene, europäische Initiative quer zum transatlantischen Mainstream nicht wahrnehmbar ist. Unmittelbar nach dem Bankrott der Sowjetunion schien das politische Potential für ein "einiges, starkes Europa mit definierten Eigeninteressen... ohne Anhängsel eines anderen Players zu sein" sehr groß. Seither ist es kontinuierlich geschrumpft. Dazu die ehemalige Abgeordnete der Grünen, Antje Vollmer, 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages: ... der Westen hat Russland dauerhaft ausgeschlossen und sich schon lange eine andere Weltordnung überlegt. Auf beschämende Weise konnte man das praktisch erleben, als sich – mit Ausnahme ausgerechnet von Viktor Orbán – kein einziger westlicher Politiker bereitfand, zur Beerdigung Michail Gorbatschows nach Moskau zu fahren. Selbst Deutschland, das ihm nahezu alles zu verdanken hatte, schickte weder Präsident noch Kanzler, Minister, Botschafter, Parlamentarier, sondern nur einen besseren Hausmeister mit bescheidenem Kranz. Das kam mir vor, wie eine nachträgliche Exkommunikation aus dem europäischen Heiligtum. Im zweiten Teil dieses Interviews meint Vollmer: Jetzt hilft nur noch die Weisheit des westfälischen Friedens. Die aber heißt: Wir fangen an, unsere gegenseitigen Sicherheitsbedürfnisse ernst zu nehmen. Wir akzeptieren unsere Unterschiede. Wir regeln mit Verhandlungen, was wir zu regeln vermögen. Von dieser Einsicht scheinen die Kontrahenten noch weit entfernt. Dieser Krieg endet nur, wenn die USA es wollen. Die Transatlantiker sind ihrem supreme leader hörig. Manche sind eifriger als das Herrl. Auf Treibjagden kommt es immer wieder vor, dass losgelassene Hunde sich trotz aller Abrichtung vom Jäger nicht zurückpfeifen lassen. |
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