Hirngespinst

17. 09. 2022

Slavoj Zizek, Modephilosoph und Zotenreißer, meint in einem Gastkommentar im STANDARD:

Da der Krieg eine soziale Mobilisierung und eine Koordinierung der Produktion erfordert, bietet er der Ukraine die einmalige Chance, die Enteignung durch ausländische Unternehmen und Finanzinstitute zu stoppen und sich von der oligarchischen Korruption zu befreien... Es wäre tragisch, wenn die Ukraine den russischen Neoimperialismus besiegen würde, nur um sich dann dem westlichen Neoliberalismus zu unterwerfen. Um echte Freiheit und Unabhängigkeit zu erlangen, muss sich die Ukraine neu erfinden. Eine westliche Wirtschaftskolonie zu sein ist sicherlich besser, als in einem neuen russischen Imperium aufgehen zu müssen, aber keines der beiden Ergebnisse ist des Leides würdig, das die Ukrainer jetzt ertragen müssen [STANDARD, 16. 9. 2022]

Gibt es nach einer allfälligen Einstellung der Kampfhandlungen zwischen Russland und der NATO auf dem Gebiet der Ukraine ein noch unwahrscheinlicheres Szenario als diese Fantasie?

> Wie könnte das ukrainische Regime ohne NATO- und EU-Hilfe überhaupt existieren und militärisch erfolgreich sein (Finanzierung des Staatsapparats, militärische Planung, Ausbildung und Aufklärung, satellitengesteuerte Feuerleitsysteme, Waffen, Waffen, Waffen...) ?

> Wie sollte das ukrainische Regime der Enteignung ukrainischer Ressourcen im Austausch zu dieser Hilfe entgehen (Ackerland an Monsanto etc)?

> Wie sollte sich das ukrainische Regime den Interessen und Handlungen der Investoren auf seinem Gebiet und den Forderungen seiner Gläubiger entziehen?

> Wie schließlich sollte das ukrainische Regime sich von oligarchischer Korruption, also von sich selbst, befreien?

In einem "russischen Imperium" geht die Ukraine nur auf, wenn die NATO sie fallen lässt. Die Ukraine aber ist nicht Afghanistan. Die der NATO einverleibte Ukraine könnte allenfalls einen Teil ihres Gebiets an Russland verlieren.

Ergänzung: Der frühere rumänische Außenminister Andrej Marga meint sogar, dass die Ukraine "unnatürliche Grenzen" habe und außer Donbas und Krim an Russland auch Gebiete an Polen (Galizien), Rumänien (Bukowina) und Ungarn (Transkarpatien) abgeben sollte. These are the territories of other countries, he said [The Odessa Journal, 18. 09. 2022]. - Mit dem Herausbomben des Kosovo aus Jugoslawien hat die NATO die Büchse der Pandora geöffnet.

Eine "neu erfundene Ukraine", die "echte Freiheit und Unabhängigkeit" genießt, ist so oder so ein Hirngespinst. Wer in dieser vernetzten Welt - Individuum, Unternehmen, Staat... - genießt schon "echte Freiheit und Unabhängigkeit"?

Das Fenster zu einer relativ selbständigen, militärisch neutralen Ukraine in den Grenzen von 1991 haben die Putschisten 2014 im Dienst der USA geschlossen. Den Kompromissvorschlag der EU haben sie verworfen ("fuck the EU") und einen Bürgerkrieg gegen die russische Minderheit im Osten begonnen. Die kalmierenden Vereinbarungen von Minsk umzusetzen hatten die Putschisten und die USA nicht vor. Ihre Beteiligung an diesem Prozess haben sie geheuchelt und zur Aufrüstung genutzt, wie Poroschenko unumwunden erzählt.

Seit dem Einmarsch russischer Truppen geht es aus russischer Sicht darum, wo der neue Eiserne Vorhang zwischen Russland und dem NATO-beherrschten Teil Eurasiens verläuft.

Die USA und ihre Satrapen wollen offenbar mehr: Russland ruinieren / besiegen und sich das Land mit seinen Ressourcen in irgendeiner Form dienstbar machen ("Entkolonisierung", "Palastrevolution"). Wenn der Schaden für Europa dabei größer wird als der Nutzen - was schert das die USA?

Dieser Krieg nützt allein den USA. Aber nur wenige prominente EU-Bürger wagen es, dieses Faktum so klar auszusprechen wie Trigema Chef Wolfgang Grupp [FOCUS, 13. 9. 2022]



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