Kein Raum für Neutralität?

22. 08. 2022

Wendelin Ettmayer, ehemaliger Nationalratsabgeordneter und Botschafter Österreichs in Finnland, Estland, Kanada, Jamaika und Straßburg hat einen Artikel zum Thema Neutralität und Moralität in den internationalen Beziehungen publiziert.

Kriege, so argumentiert er, die für das Gute in der Welt, für Recht und Ordnung geführt werden, unterscheiden sich in der Praxis nicht von Kriegen, die der verfemten "macchiavellistischen" Realpolitik der Vergangenheit zugeschrieben werden:

In Vietnam wurde Giftgas in einem Ausmaß eingesetzt, dass es dort in den betroffenen Regionen Generationen lang keine normalen Geburten mehr gab. Für die Befreiung Afghanistans wurde der Tod von Hunderttausenden von Zivilisten und die Flucht von Millionen von Menschen in Kauf genommen und der Irak wurde, unter dem Motto „Democracy-building“, in ein wildes Chaos gestürzt. Leute wie General William G. Boykin sind fest davon überzeugt, dass die CIA und US- Spezialeinheiten dem Kampf des Christentums gegen das Böse dienen. Dies, obwohl die USA wesentliche Menschenrechts-Pakte der Vereinten Nationen nie ratifiziert und die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs sogar bekämpft haben. Dafür werden jeweilige Gegner, die man eliminieren will, zu einem „neuen Hitler“ hochstilisiert, wie Muammar Qadhafi, Saddam Hussein oder Slobodan Milosevic, und jetzt Wladimir Putin, auch wenn man zwischenzeitlich mit ihnen zusammengearbeitet hat, wenn das den eigenen Interessen diente.

Aus diesen Fakten sei daher nicht abzuleiten, dass ein neutraler Staat wie Österreich in solchen Auseinandersetzungen sich auf die Seite der "Guten" schlagen muss, um nicht als deren "Trittbrettfahrer" zu gelten:

Die österreichische Außenpolitik soll auf Frieden, Sicherheit und auf das Wohlergehen unseres Landes ausgerichtet sein, durchaus im Einklang mit den anderen Mitgliedern der Europäischen Union. Eine Unterstützung der weltweiten Ambitionen einer Großmacht muss nicht unbedingt Teil dieser Politik sein. Was etwa Russland betrifft, so hat sich Jahrzehnte lang eine Politik der Kooperation besser bewährt als Konfrontation. „Mehr Sicherheit“ muss nicht unbedingt mit „mehr Rüstung“ einhergehen, sondern kann durchaus auch auf mehr Diplomatie beruhen. Eine solche Politik hat das neutrale Österreich in den letzten Jahrzehnten ausgezeichnet, weshalb es keinen Grund gibt, von diesem bewährten Modell abzugehen.

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Die Menschen und ihre politischen Führer haben Untaten immer schon moralisch gerechtfertigt: Wir, die Guten, die Edlen, die Zivilisierten gegen die Bösen, die Untermenschen, die Primitiven. Zu Zeiten der "macchiavellistischen Realpolitik" hießen Kriegsminister aber immerhin Kriegsminister.

Mit der "humanistischen Wende" nach 1945 sind die Kriegsminister ausgestorben. Es gibt nur noch Verteidigungsminister. Sie führen keine Kriege. Sie verteidigen lediglich Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gegen die Bösen - sei es in Vietnam, in Jugoslawien, im Irak, in Libyen, am Hindukusch oder in der Ukraine.

Seit 1945 haben die Europäer gelernt und werden darin täglich von den Medien bestärkt: wer zu den Guten zählt und wer zu den Bösen - das definiert die mächtigste Demokratie der Welt, das definieren die USA.

Neutralität und Kompromisse zwischen Gut und Böse sind ausgeschlossen. Eine Chance haben Kompromisse nur, wenn es zwischen zwei oder mehreren Konkurrenten um banale Interessen geht wie Marktvorteile, Ressourcen, Macht und wenn die Konkurrenten einander so einschätzen, dass ein Krieg riskant, ein Sieg für den einen oder anderen schwer zu erringen ist.

Diese Einschätzungen haben sich zwischen den USA und Russland offenbar geändert:

a) Die USA / NATO und im Schlepptau die EU-Staaten glauben, sie können Russland in die Knie zwingen oder zumindest „ruinieren“. Dieser Einschätzung liegt die erfolgreiche NATO-Osterweiterung zugrunde und die damit verbundene politische Schwächung Deutschlands und Frankreichs innerhalb der EU. Polen etwa - die USA im Rücken - schlägt immer heftigere Töne vor allem gegen Deutschlands „Dominanz“ an.

Die Bedeutung Deutschlands und Frankreichs ist in den USA und in Russland geschrumpft, nicht zuletzt, weil sich die ursprünglich kompromissbereite Haltung dieser Staaten zu Russland gegen die Interessen der USA und der russophoben EU-Ost (Polen, Balten) - das in Washington gelobte "neue Europa" - nicht durchgesetzt hat. Nach der Eliminierung der Reste von Brandts Ostpolitik und der freiwilligen Schwächung seiner Wirtschaft im Gefolge der Sanktionen liegt Deutschland nun an der kurzen Leine der USA.

Aus dieser Perspektive ist Russlands Angriff auf die Ukraine - von den USA durch Gesprächsverweigerung kühl provoziert - ziemlich verrückt. Wie will Russland diesen Krieg gewinnen? Ist dieser Versuch Russlands, sich aus dem Würgegriff der NATO / USA zu befreien, nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt?

b) Dass Russland sich zum Krieg entschlossen hat, hat viele Beobachter überrascht. Im Kreml aber scheint sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass jedes weitere Zuwarten (Minsk, Sicherheitssystem etc) vergeblich ist und die Lage für Russland nur verschlechtert.

Der bisherige Kriegsverlauf kommt freilich auch den Erwartungen des "Westens" nicht entgegen. Die Regierungen von 85 Prozent der Weltbevölkerung verhalten sich zum Ärger von NATO / USA / EU neutral, kaufen Russland Öl und Gas ab und substituieren Exporteure und Investoren aus dem Westen, die sich auf Geheiß der USA aus Russland zurückziehen müssen. Ungarn will weiter Öl und Gas aus Russland beziehen, die neue Regierung Bulgariens ebenfalls.

Ob und wann die bisherigen wechselseitigen Einschätzungen den Realitäten angepasst werden, die sich im Kriegsverlauf enthüllen, ob und wann es daher zu einem Sieg oder zu einem Einfrieren des Konfliktes kommt ist noch offen. Zum Frieden kommt es nie. Dazu ist unsere Affenart zu aggressiv und zu deppert.

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Den USA und dem "Werte-Westen" freilich geht es nie um banale Interessen. Es geht um den Kampf der Guten gegen die Bösen. Dabei hat Neutralität keinen Platz.

Bei der Verteidigung ihrer Freiheit in Vietnam oder im Irak war es den USA vermutlich gleichgültig, ob Österreich neutral war oder nicht. Bei einem Waffengang in Europa zwischen Gut und Böse (Jugoslawien, Russland) hat die Neutralität jedenfalls Pause. Österreich steht fraglos auf der Seite der Guten und ordnet sich ein in die Reihen der Verteidiger von Freiheit und Demokratie.

Eine Regierung, die das verweigert, ist angesichts der Mitgliedschaft Österreichs in der Wirtschafts-NATO vulgo EU und aufgrund der transatlantischen Sozialisation des politischen Personals in den maßgebenden Parteien und in den Leitmedien der EU nicht vorstellbar.

Ob der eine oder andere namenlose Bürger Zweifel an dieser Positionierung hat, ist egal. Äußert sich jedoch eine bekannte Person oder gar ein politischer Funktionsträger skeptisch dazu, wird er sofort in die Schranken gewiesen, zum Populisten, zum Deppen oder zum politischen Paria ("Putinversteher") erklärt.

LH Stelzer etwa hat schüchtern die Sinnhaftigkeit der Sanktionen gegen Russland in Frage gestellt. Umgehend wird er von der Opposition, aber auch von der eigenen Partei (Schallenberg, Karas…) attackiert und rudert zurück.

Die Journalisten treten nach - siehe zB den Leitartikel in den OON vom 21. 8. 2022.

Machen wir´s kurz: Ettmyayrs Position findet in der Regierung / in der Politik / in der Publizistik Österreichs kein Gehör.

Im Jargon des Militärs: Er steht auf verlorenem Posten.

Nachtrag zum Verhältnis von Interesse und Moralität

Die EU-Staaten haben ihr Interesse an kostengünstiger, relativ umweltfreundlicher Energie aus Russland zugunsten der hohen moralischen Werte des Westens aufgegeben.

Auf der Suche nach Alternativen zum unmoralischen Russen-Gas buckelt Herr Habeck in Katar [bisher vergebens - MERKUR, 10. 8. 2022], Macron in Algerien und Frau Baerbock in Marokko. Diese Bemühungen kommentiert die famose Erfinderin der feministischen Außenpolitik so:

Deutschland und die EU dürften sich „nie wieder abhängig machen von Ländern, die unsere Werte nicht teilen“, sagte Baerbock in Anspielung auf die Gasversorgungskrise in Europa und die Drosselung russischer Gasexporte in die EU-Staaten [ORF ONLINE 26. 8. 2022]

Die Werte Deutschlands und der EU werden demnach von Katar, Marokko und Algerien im Unterschied zu Russland geteilt, offenbar auch in feministischer Hinsicht.

Wem das nicht so vorkommt, sieht auch im Wechsel der Energie-Anbieter, den Deutschland / die EU sich von den USA haben aufbürden lassen, das Interesse über die Moral siegen. In grüner Manier freilich aufs lächerlichste moralisch verbrämt.



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