"Überwohlstand"

19. 07. 2022

Der Politikwissenschafter Ulrich Brand

sieht in den aktuellen Krisen die Chance für eine Neudefinition, was Wohlstand in unserer Gesellschaft eigentlich bedeutet und wie wir auch in Zukunft ein lebenswertes Leben führen können [DER STANDARD, 18. 7. 2022]

Das bisherige Verständnis von Wohlstand sei zu "ressourcenintensiv" wie "billiges Fleisch, Benzin, Flüge und ein Eigenheim am Land".

Dieser "Überwohlstand" sollte durch ein anderes Wohlstandsmodell, durch eine "solidarische Lebensweise" abgelöst werden. Dazu erforderlich sei unter anderem "ein europäisches Zugnetz, gute und leistbare ökologische Nahrungsmittel, öffentlicher Verkehr und saubere Energie"

Das klingt gut.

Zutreffend ist: Die lohnabhängigen Bürger der EU sind mit sinkendem Realeinkommen und Inflation konfrontiert. Darüber hinaus hat die Vision Herrn Brands mit der Realität nichts zu tun:

Das böse, billige Gas aus Russland wird durch Öl, Kohle, Atomkraft und teures, umweltschädlicheres Fracking-Gas ersetzt. Es wird von gigantischen Schiffen, die mit Schweröl betrieben werden, über das Meer nach Europa verfrachtet.

Die öffentlichen Mittel der EU-Staaten fließen verstärkt weder in das Gesundheits- und Sozialsystem, noch in den Ausbau eines europäischen Zugnetzes, sondern vor allem in die Rüstung.

Dieser Artikel hat - gemessen an den realen Vorgängen, nicht an den vermutlich redlichen Vorstellungen des Interviewten - eine klassische, ideologische Funktion:

Die EU-Bürger sollen sich mit politisch erzeugten Entbehrungen abfinden. Sie sollen sie sogar begrüßen: im medial produzierten falschen Bewusstsein, dass sie damit einen Schritt in eine leuchtende Zukunft tun.

Ergänzung 21. 07. 2022

Die Zumutungen des falschen Bewusstseins kommen von höchster Stelle.

"Während wir heute die Festspiele eröffnen, harren Familien in ukrainischen Städten in Kellern und Luftschutzbunkern aus. Und weil das alles aus Sicht des russischen Präsidenten nicht genug ist, drosselt er die Gasversorgung in Europa. Und machen wir uns nichts vor, er wird sie ganz abdrehen, wann immer es ihm gefällt", konstatiert Van der Bellen. Diese Abhängigkeit sei "unerträglich". Ebenso unerträglich sei es aber, wenn man auch nur mit dem Gedanken spiele, "sich zum unterwürfigen Verbündeten des Diktators zu machen" [DER STANDARD, 20. 7. 2022]

Dass Bewohner des Donbass seit acht Jahren in die Keller flüchten, wenn die Regierung in Kiew sie beschießt, spart der HBP aus. Er bewegt sich im NATO-Narrativ. Die NATO-Erzählung vom Konflikt mit Russland ignoriert beharrlich die Interessen und politischen Präferenzen der Menschen im Osten der Ukraine. Das schließt eine politische Lösung des Konflikts weiter aus.

Dass der "russische Diktator" den EU-Staaten das Gas abdrehen kann, ist richtig. Dass er es tut, ist falsch.

Umgekehrt: Russland liefert Gas seit Jahrzehnten vertragstreu bis zum heutigen Tag. Russland ist bereit, Nordstream 2 jederzeit in Betrieb zu nehmen. Die EU-Urschel hingegen erklärt seit Monaten, überhaupt kein Gas mehr aus Russland beziehen zu wollen. Die Ukraine stoppt Gaslieferungen aus Lugansk und protestiert gegen die Rückstellung der reparierten Siemens-Turbine aus Kanada, um Gaslieferungen über Nordstream 1 weiter zu behindern.

Diese Fakten verdrehen Politiker und Medien in der EU zum "Gaskrieg Putins" gegen "Europa".

Wer mit dem ruchlosen Gedanken spielt, "Vasall Putins" zu werden, verrät der HBP nicht. Meint er Leute, die zu Verhandlungen aufrufen? Egal. "Unerträglich" sei es, sich zum unterwürfigen Verbündeten des Diktators zu machen.

Nicht unerträglich, nicht beschämend findet es der Präsident des neutralen Österreichs, in den Chor militanter Politiker aus US-unterwürfigen NATO-Staaten einzustimmen.

Ergänzung 22. 07. 2022

Stumm oder mit der bekannten Gebetsmühle - Scholz betonte, dass man sich auf russische Zusagen nicht mehr verlassen könne....die 40 Prozent können uns nicht in Sicherheit wiegen reagieren die Wirtschaftskrieger in Deutschland auf die Wiederaufnahme der Gaslieferungen über Nordstream 1. Die Wartung ist zwar noch nicht abgeschlossen, es fehlt immer noch die Turbine aus Kanada, aber auch Nordstream 2 steht bereit...

Sie scheinen geradezu frustriert über die Lieferung. Sie wollen ihren Verzicht auf Erdgas aus Russland, ihre rigorosen Sparpläne und ihre teuren Energie-Einkäufe anderswo ja mit "Erpressung durch Putin" verkaufen. Das funktioniert nicht. Sie haben sich in ihrer eigenen Strategie verfangen.



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