![]() |
Realsatire, Altbekanntes, Zeitenwende |
10. 07. 2022 In einem Jubelartikel - gestern noch als Aufmacher, heute weit nach hinten gerückt - porträtiert STANDARD-ONLINE die grüne Umweltministerin als technokratische "Aufräumerin": Sie zwingt Unternehmen zum Einsatz von Öl und verteidigt die Reaktivierung der Kohlekraft Wollen Sie nicht auch Zwentendorf aufsperren, Frau Minister? Diese Realsatire aus dem grünen Universum wurde offenbar von vielen Postern wahrgenommen. Bei allem Lob vermisst DER STANDARD dringend eine große Erzählung, einen Appell, die gesellschaftliche Aufgabe gemeinsam zu bewältigen Arbeiten die Ideologen nicht längst daran? "Wir" - so tönt es aus klimatisierten Konferenzräumen und Redaktionsstuben - "wir" werden ärmer durch steigende Kosten für Energie, durch Inflation und durch die Notwendigkeit, aufzurüsten - ja, aber dafür sind weder die EU noch die USA verantwortlich, sondern einzig und allein Putin! "Wir" müssen das in Kauf nehmen und durchstehen, sonst zwingt Putin ganz Europa unter sein Joch. Überzeugt diese Große Erzählung etwa noch zu wenig Menschen?
Franz Schuh philosophiert im STANDARD unter dem Titel "Krieg ist spätkapitalistische Industrie". Krieg gab's vor dem Kapitalismus und Krieg wird ihn wohl überdauern, das ist altbekannt, aber falsch ist die Auffassung der zeitgenössischen Kriege als "Industrie" deshalb nicht: Ein Blick auf die seit März gestiegenen Börsenkurse der (US)-Rüstungskonzerne macht klar, wer vom aktuellen Krieg profitiert, wer an seiner kontrollierten Verlängerung interessiert ist und wer die jeweiligen Regierungen richtungweisend lobbyiert. Dennoch darf auch bei Schuhs Auftritt in diesem Qualitätsblatt die moralintriefende Polemik gegen den "zynischen Diktator" Putin und gegen die "Idiotie des Vertrauens" des Präsidenten der Europäischen Wirtschaftskammer, Christoph Leitl und seiner "Entourage", nicht fehlen. Über der Notwendigkeit, "Handel zu treiben", wurde die Entwicklung hin zum Krieg gern übersehen stellt der gute Mann fachmännisch fest. Umgekehrt. Hätte man mehr Handel betrieben, statt einseitig Sanktionen zu verhängen und Russland mit den Minsker Vereinbarungen hinzuhalten, damit die NATO die Ukraine aufrüsten kann - wäre es dann zum Krieg gekommen? Egal. Das Projekt eines "Wirtschaftsraumes von Lissabon bis Wladiwostok" ist gescheitert. Auf unabsehbare Zeit in die Ferne gerückt ist damit auch die Vision eines großen, souveränen Europas. Im entgrenzten transatlantischen Opportunismus der Machthaber und Medien in der EU ist beides nur noch Objekt für Schuldzuweisungen, Hohn und Verachtung.
Die "Zeitenwende", die mit dem Krieg in der Ukraine wohl unumkehrbar geworden ist, skizziert der ehemalige Direktor des Carnegie-Instituts in Moskau, Dmitri Trenin, aus russischer Sicht. Die vielfältigen historischen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen Russlands zum Westen seien ein Weg, von dem man sich nur schwer verabschieden kann. Dies sei eine schwierige als auch eine notwendige Aufgabe. Trenin meint, Russland werde nach dem Bruch mit dem Westen erst recht eine neue Weltordnung mitgestalten. Er hält fest: Trotz des jüngsten politischen Bruchs und der geoökonomischen Verschiebungen bleiben die Grundlagen der russischen Kultur definitiv europäisch. Doch weil der Westen Russland um jeden Preis meiden will und versucht, es zu isolieren und sogar "auszulöschen", wird Moskau nun keine andere Wahl gelassen, als seine alten Gewohnheiten aufzugeben und sich noch zielstrebiger mit der größeren, der ganzen Welt – auch jenseits von Westeuropa und Nordamerika – zu verbinden... Dazu muss Russlands Außenpolitik eine entsprechende Strategie finden. Vor allem muss sie den Beziehungen zu nichtwestlichen Ländern klaren Vorrang vor den de facto eingefrorenen Westbindungen einräumen. Botschafter in Indonesien zu sein, sollte prestigeträchtiger als ein Botschafterposten in Rom sein, und ein Posten im usbekischen Taschkent könnte wichtiger sein als jener in Wien. Ergänzung 12. 07. 2022 Paul Lendvai ist besorgt über den unmoralischen Einfluss "neutraler Defätisten" auf die Stimmung in der Bevölkerung, setzt Bereitschaft zu Verhandlungen mit Russland dem "Appeasement" gegenüber Hitler gleich und will, dass der Westen moralisch fest und unnachgiebig bleibt bis zum Endsieg. Wem die lächerliche Doppelmoral der Transatlantiker in Sachen Krieg und Gewalt (Vietnam, Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien....) nicht peinlich ist, mangelt es entweder an Reflexion oder es handelt sich um einen Ideologen.
Einen klaren Blick auf diese Doppelmoral wirft Noam Chomsky in einem Interview: Es sollte moralische Empörung geben. Aber wenn man in den Globalen Süden geht, können sie nicht fassen, was sie da zu Sehen bekommen. Natürlich verurteilen sie den Krieg. Es ist ein beklagenswertes Verbrechen der Aggression. Dann schauen sie auf den Westen und sagen: Wovon redet ihr eigentlich? Das tut ihr uns doch die ganze Zeit an. Es ist schon erstaunlich, wie unterschiedlich die Kommentare ausfallen. Lesen Sie die New York Times, ihren großen Denker, Thomas Friedman. Er hat vor ein paar Wochen eine Kolumne geschrieben, in der er verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Er sagte: Was können wir tun? Wie können wir in einer Welt leben, die einen Kriegsverbrecher hat? So etwas haben wir seit Hitler nicht mehr erlebt. In Russland gibt es einen Kriegsverbrecher. Wir sind ratlos, was sollen wir tun? Wir haben uns nie vorstellen können, dass es irgendwo einen Kriegsverbrecher geben könnte. Wenn Menschen im Globalen Süden das hören, wissen sie nicht, ob sie in Gelächter oder Spott ausbrechen sollen. Wir haben Kriegsverbrecher, die überall in Washington herum spazieren. Putin / Russland wirft Chomsky Dummheit vor: Hätte es also Staatsmänner in Putins engem Kreis gegeben, hätten sie Macrons Initiativen aufgegriffen und ausprobiert, ob sie sich tatsächlich mit Europa integrieren und die Krise abwenden könnten. Stattdessen hat er sich für eine Politik entschieden, die aus russischer Sicht völliger Wahnsinn ist. Abgesehen von der Kriminalität der Invasion hat er sich für eine Politik entschieden, die Europa noch enger an die Vereinigten Staaten bindet. Sie veranlasst sogar Schweden und Finnland, der Nato beizutreten – aus russischer Sicht das denkbar schlechteste Ergebnis, ganz abgesehen von der kriminellen Invasion und den schwerwiegenden Verlusten, die Russland dadurch erleidet. Ja, der Krieg ist für Russland, für die EU und für ganz Europa katastrophal. Chomskys Ansicht, dass die Entfremdung zwischen Russland und der EU der Dummheit Putins zuzuschreiben sei, teile ich hingegen nicht. Der germanophile Putin hat zwanzig Jahre um Kooperation mit der EU geworben und acht Jahre geduldig auf die Umsetzung der Minsker Vereinbarung durch Deutschland und Frankreich gesetzt. Vergeblich. Für Russland war das Ergebnis nicht nur Null: die NATO hat die Ukraine in dieser Zeit aufgerüstet und das gewiss nicht zum Spaß. Im moralisch besten Fall haben Deutschland und Frankreich sich in diesem Prozess gegen die konfrontative US-Strategie nicht durchgesetzt. Dafür spricht, dass Merkel das Scheitern eingesteht, aber eine Entschuldigung verweigert. Wie überall im Leben zählt das Ergebnis mehr als allfälliger guter Wille. Nach der Ignoranz der EU gegenüber russischen Sicherheitsbedürfnissen im Kielwasser der USA hat Russland die EU als souveräne Macht abgeschrieben. Die Ukraine angreifen musste Russland deshalb nicht. Russland hätte vor den USA und ihren Satelliten die Segel streichen können. Freilich: Nur ein Narr konnte das ernsthaft erwarten. Das Biden-Regime hingegen hat mit diesem Krieg erfolgreich spekuliert: er schwächt Russland, schwächt die EU (vor allem Deutschland) und festigt die Gefolgschaft des Imperiums. Allerdings nicht so weltumspannend wie erhofft. |
HOME COME IN GARDEN ARTICLES |
![]() |
![]() |
![]() |