Offener Brief an Kanzler Olaf Scholz

02. 05. 2022

Diesen Offenen Brief habe ich mit derzeit rund 167.000 Mitunterzeichnern unterschrieben und seine Weiterverbreitung finanziell unterstützt.

Wenn ich mich recht erinnere, ist dies die erste politische Resolution in meinem Leben, unter die ich meinen Namen gesetzt habe. Zur Wirksamkeit solcher Aktionen hatte ich nie Illusionen. Auch dieser Brief wird die Ukraine-Politik Deutschlands und der EU nicht wenden. Meine Unterschrift war mehr ein Akt zur psychischen Hygiene.

Unter den Erstunterzeichnern Martin Walser und Alexander Kluge. Diesen Monumenten deutscher Intellektualität nach 1945 kann die Politik nichts anhaben. Andere Unterzeichner gehen ein berufliches Risiko ein - Schaupieler Lars Eidinger etwa oder die Kabarettisten Nuhr und Polt. Reduziert deutsches Kabarett sich künftig auf Oliver Welke und Jan Böhmermann? Puh.

Appelle weniger bekannter Persönlichkeiten werden ignoriert / haben keine Reichweite. Diesfalls sind Reaktionen von Funktionsträgern im Staat, seinen Lohnschreibern und Moderatoren offenbar unvermeidlich. Besonders empört und mit hochmoralischem Tremolo gegen Frau Schwarzer hervorgetan hat sich sofort ein prominenter Grüner: Herr Hofreiter mit seinen dünn gewordenen, langen Haaren, seinem pseudo-aufsässigen Markenzeichen.

Schon zur Zeit der Studentenbewegung vor über fünfzig Jahren habe ich diesem Typus misstraut. Das Aufbegehren gegen verkrustete Strukturen an den Universitäten, Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam oder gegen den Schah waren für Pseudo-Revolutionäre wie Cohn-Bendit oder den Steinewerfer Joschka Fischer vor allem eine Gelegenheit zur Attitüde, zur Selbstdarstellung, zur Profilierung in ihrer Blase.

Franz Josef Degenhardt hatte ein gutes Gespür für diesen Typus. 1969 trug er in einer seiner Balladen vor, dass die Anliegen der Revoltierenden wohl vielfach "nur solche Geschichten bleiben, die man den Enkeln erzählen kann", "Streiche von Kindern besserer Leute" - vom Establishment schmunzelnd begrüßt.

Nach dem Abflachen der Studentenbewegung entdeckten diese Typen "die Umwelt" als Mittel zur Karriere. Das entsprach dem Zeitgeist. In die Tür zur Macht aber konnten sie damit lediglich den Fuß stellen. Nachhaltige Macht im besetzten Deutschland ist nur mit unbedingter Loyalität zu den USA zu erringen. Mit Joschka Fischer haben die Grünen im NATO-Krieg gegen Jugoslawien den Nachweis dieser Loyalität erbracht.

Seither sind die deutschen Grünen die treuesten Parteigänger des russophoben militärisch-industriellen Komplexes in den USA. Mit zynischer Leichtigkeit übertragen haben sie auf diese Loyalität die empörte moralische Attitüde aus den Anfangzeiten.

Die Grünen sind Gegner der Jagd, weil die Jagd so grausam ist. Die Grünen fordern ein würdiges Leben für Hühner und Schweine, weil die Bauern so roh sind. Schwere Waffen zu liefern für das menschliche Kanonenfutter in der Ukraine, um Russland in einem Abnützungskrieg zu ruinieren - das hingegen ist eine hochmoralische Verpflichtung. Mit Putin kann man nicht verhandeln. Russland muss besiegt werden. Basta.

Diese Moralisten lassen andere Leute für ihre "Werte", für ihre Macht kämpfen und sterben. Zu Lasten der Steuerzahler stellen sie ihnen großherzig Panzer, Geschütze und Munition zur Verfügung. Vor ein paar Tagen hat mir der Bezirksjägermeister erzählt, es gab Engpässe bei der Munitionsbeschaffung für seinen Jagdkurs, weil die Unternehmen für den Krieg produzieren.

Ganz unmoralisch rufe ich den Obergrünen daher zu: Habeck, Baerbock, Hofreiter! Selbst an die Front!

Ergänzung 15. 05. 2022

Der Brief von Schwarzer, Walser etc an Scholz wurde am 29. 4. in EMMA veröffentlicht.

Am 5. 5. erschien in DER ZEIT ein Offener Brief mit der gegenteiligen Botschaft: Bitte, Herr Bundeskanzler, weiter schwere Waffen an die Ukraine. Initiator dieses Briefs ist das "Zentrum Liberale Moderne" der Grün-Politiker Ralf Fücks, Marieluise Beck und Rebecca Harms.

Fücks hat als ehemaliger Maoist wie Joschka Fischer und Cohn-Bendit eine präpotente, pseudorevolutionäre Vergangenheit und hat sich zeitgerecht gehäutet. Wie andere extremlinke Schreihälse der sechziger Jahre ist er in den wohltemperierten braunen Salon des US-Imperialismus übersiedelt.

Fücks Brief haben bisher 68.000 Personen unterschrieben. Schwarzers Brief 275.000.



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