Das Grab in der Ukraine

27. 03. 2022

Unter "Europa" verstand und versteht man unterschiedliche regionale / politische Zusammenhänge. Coudenhove-Calergie zählte die europäischen Kolonien in Afrika dazu. Im Rahmen der UEFA gehören auch Israel und Kasachstan zu Europa. Die EU wiederum hält sich selbst für das einzig legitime Europa.

Das Europa de Gaulles und Gorbatschows hingegen schloss Russland ein.

Dieses Europa wird in der Ukraine begraben.

Russische Panzer wälzen das Grab platt.

Geschaufelt haben es USA/NATO/EU.

Vision

Nach 1945 sind die Initiatoren der europäischen Integration einer weisen Vision gefolgt. Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege sollte um Hegemonie in Europa nicht mehr gekämpft werden. Eine Union der europäischen Länder war das gewaltfrei angestrebte Fernziel, ermöglicht durch eine allmähliche ökonomische Integration ("EWG").

Nach dem Bankrott der Sowjetunion, nach der Auflösung des Warschauer Pakts und dem Rückzug Russlands auf Russland schien diese Vision neuen Auftrieb zu erhalten: noch zu Zeiten des Kalten Krieges und zum Missvergnügen der USA hatte de Gaulle ein Europa "vom Atlantik bis zum Ural" im Auge. Nun sprach Gorbatschow vom "Gemeinsamen Haus Europa".

Illusion

So eine Entwicklung zuzulassen widersprach der Brzezinski-Doktrin, der leitenden Idee der Außen- und Europapolitik der USA. Auf ernsthaften Widerstand in der EU ist diese geopolitische Ausrichtung aufgrund der Dominanz der Transatlantiker nicht gestoßen.

Diese Geopolitik bedient sich u. a. extremer Nationalisten zur Sprengung unbotmäßiger Staaten: Separatisten und Sezessionisten wurden und werden unterstützt in Jugoslawien (Kroaten, Slowenen, muslimische Bosniaken, Kosovaren...), im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion (Balten, Polen, Ukrainer, Georgier, islamistische Tschetschenen...), in China (Uiguren), freilich nicht in Schottland, im Baskenland, in Katalonien und schon gar nicht, wenn es sich um bosnische Serben oder Russen auf der Krim, in der Ostukraine handelt.

Einmal in der EU, werden solche Nationalisten auch zum Problem (Polen, Ungarn...). Was die EU von den Bandera-Nazis in der Ukraine noch zu erwarten hat bleibt vorderhand unter dem Radar. Einstweilen sind sie überaus nützlich.

Unter deutscher Präsidentschaft hat die EU mit ihrer Beteiligung am Krieg der NATO gegen Jugoslawien den Weg der gewaltfreien Integration Europas verlassen und das 50-jährige Tabu des Krieges in Europa gebrochen. Wichtiger als ökonomische Kriterien bei der Erweiterung der EU wurden geopolitische Motive im Kielwasser der USA (NATO-Stützpunkte).

Unerwartetes Zeitfenster

Dennoch begeisterten die Aussichten auf wechselseitige Vorteile eines Wirtschaftsraumes "von Lissabon bis Wladiwostok" Industrielle und Wirtschaftsforscher wie Herrn Felbermayr aufs Neue, als Trump die Bühne betrat:

Paradoxerweise könnte jedoch die Wahl des freihandelskritischen Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA zu der Belebung der Idee einer Vereinbarung zwischen der EU und der EAWU führen. Einerseits scheint ein transatlantischer Handelsvertrag zwischen der EU und den USA nun in weite Ferne gerückt, was in der EU Verhandlungskapazitäten schafft. Andererseits setzt Trump auf eine Entspannung mit Russland, so dass eine langsame Rückehr zu normalen Verhältnissen zwischen Ost und West wahrscheinlicher wird. Zieht sich Trump noch dazu militärisch aus Europa zurück, wird eine Verständigung mit Russland für die EU umso wichtiger, da das Aufrechterhalten eines Konfrontationskurses hohe zusätzliche Rüstungskosten nach sich ziehen würde. Noch zeigen sich diese Überlegungen nicht im Handeln der EU. Gerade erst haben die EU-Staaten die Sanktionen gegen Russland um weitere sechs Monate bis Juni 2017 verlängert [ifo Schnelldienst 2/2017 – 70. Jahrgang – 26. Januar 2017]

Trump war weder an der NATO noch an Europa interessiert. Er hat sich nicht als Führer der „freien Welt“, sondern als Interessenvertreter von US-Bürgern inszeniert. Seine deklarierten Ziele waren die Verbesserung der US-Infrastruktur, die Begrenzung illegaler Immigration und die Rückholung industrieller Arbeitsplätze. Die imperialistischen Kriege der USA im Nahen Osten / Afghanistan hat er - Geschäftsmann im zivilen Bereich - für verrückt gehalten. Er war stolz, dass die USA während seiner Präsidentschaft keinen neuen Krieg begonnen haben. Allein: Freunde im Establishment gewinnt man so nicht.

Dieses Zeitfenster für ein eigenständiges Europa und für ein kooperatives Verhältnis zwischen EU und Russland zum beiderseitigen Vorteil haben die Europäer nicht genutzt.

Ganz im Gegenteil: sie waren von Trump irritiert und zutiefst frustriert. Wie kleine Kinder haben sie gegreint, dass die USA sich für Europa nicht interessieren. Wie freudig bewegt waren sie daher, als Biden gewählt wurde! Mit diesem Kriegstreiber ("I suggested bombing of Belgrade. I suggested that American pilots go there and destroy all bridges on the Drina") hat sich die US-Rüstungsindustrie und die imperialistische Fraktion in der US-Elite wieder durchgesetzt. Die EU hat ihren ersehnten Führer. Selensky will Biden sogar zum „Führer der Welt“ befördern. Meine unerfreulichen Erwartungen an die neue Administration sind wenig überraschend eingetroffen.

Zum Kriegsverlauf

Ein US-Kommentator (Scott Ritter) hat die Kriegsführung Russlands in der Ukraine so kommentiert: die russische Armee geht vor, als hätte sie sich eine Hand auf den Rücken gebunden. Ein treffender Vergleich mit der Kriegsführung der USA.

Die USA haben seit dem 2. Weltkrieg in all ihren Kriegen auf Bomben, Raketen, chemische Kampfstoffe (Entlaubung des Dschungels in Vietnam) gesetzt: alles niederbomben, Bodentruppen erst, wenn die Infrastruktur zerstört und jeder ernsthafte Widerstand gebrochen ist. In Jugoslawien und in Libyen ist die NATO mit dieser Methode ohne Bodentruppen ausgekommen: 11 Wochen Bomben auf Jugoslawien, ein halbes Jahr Bomben auf Libyen - das hat gereicht, diese Länder zu devastieren und zur Kapitulation zu zwingen.

Eine solche Kriegsführung wollte Russland gegen die Ukraine offenbar vermeiden. Dass Russland gezielt Kriegsverbrechen verübt verneinen selbst US-Analysten und niemand zweifelt daran, dass Russland Kiew dem Erdboden gleich machen könnte. Aber - wie Clausewitz oft betont - unvorhergesehene "Friktionen" lassen den Krieg stets anders verlaufen als geplant. Auch wenn die Zerstörung Mariopols kaum auf der Agenda gestanden hat: der Widerstand des Asow-Regiments und seine Taktik, in der Ostukraine verbrannte Erde zu hinterlassen konfrontiert mit dem Willen Russlands, diese Stadt zu erobern, hat dazu geführt.

Wie immer: Die Kriegsführung Russlands scheint nicht auf die Besetzung der Ukraine hinauszulaufen. Eher hat Russland auf einen Regimewechsel gehofft, um den Flugzeugträger / die Raketen-Startrampe der USA in seiner Nachbarschaft in einen neutralen Pufferstaat zu verwandeln.

Dieses Ziel scheint illusorisch. Russland kann höchstens gelingen, sich vor einem Waffenstillstand in der Ostukraine festzusetzen mit dem Ziel, Verhandlungsergebnisse zu ertrotzen. Da die Ukraine von den USA politisch gecoacht und keine territorialen Zugeständnisse machen wird, kann aus einem solchen Waffenstillstand wohl nur ein politisches Patt auf unabsehbare Zeit (etwa wie zwischen Nord- und Südkorea) entstehen. Die Krim gibt Russland sowieso erst her, wenn im Kreml die US-Fahne gehisst wird.

Eine neue Demarkationslinie

Leben werden EU-Europäer und Russen nun wieder vor und hinter einem eisernen Vorhang, einer neuen Demarkationslinie, deren Verlauf sich wohl in den nächsten Wochen in der Ostukraine festigen wird.

Im Vergleich zur Situation im Kalten Krieg haben die USA damit ihren Einflussbereich in Europa beträchtlich nach Osten ausgedehnt und eingefroren. Die nächste Etappe in der US-Strategie ist ein Regimewechsel in Russland, vergleichbar mit den Verhältnissen zu Jelzins Zeiten. Ob und wann das gelingt, weiß derzeit niemand. Dass die USA daran arbeiten steht aller Erfahrung nach außer Zweifel.

Bis dahin werden die US-Rüstungskonzerne satte Gewinne machen, wenn die EU-Europäer ihren Wehretat aufstocken. Auch die umweltfreundliche Frackinggas-Industrie der USA blüht auf, wenn ebenso umweltfreundliche Containerschiffe sich in europäischen Häfen anstellen, um ihre Ladung zu löschen. Das sind die Sieger in diesem Krieg.

Verlierer sind die Bürger der Ukraine, Russlands und der Europäischen Union. Abgesehen vom Leid der unmittelbar betroffenen Menschen müssen sie den Wiederaufbau in zerstörten Städten und Dörfern auf beiden Seiten des Zauns finanzieren, enorme Rüstungsausgaben stemmen und viel mehr Geld für Heizung, Strom und Mobilität aufwenden als bisher.

Eine radikale Entfremdung zwischen US/EU-Bürgern und Russen hat der Westen mit der Ausgrenzung russischer Künstler und Sportler eingeleitet. Diese Ausgrenzung nimmt groteske Züge an: mein Lieblingscocktail "Moscow Mule" - 1940 in den USA(!) kreiert - wurde in München unbenannt in "Kiew Mule".

Entgegnung - 1. 4. 2022

Ich habe in großen Teilen eine ganz andere Meinung! Ich teile z.B. die Meinung nicht, dass Putin das"Opfer" ist, der gar nicht anders konnte, als jetzt Krieg führen.

widerspricht mir ein Freund.

In meinen Texten kommt Putin weder als "Opfer" noch als "Schlächter", "kaltblütiger Diktator" oder "Psychopath" vor. Auch wenn solche Zuschreibungen bei einzelnen Individuen aufrichtiger Empörung entspringen mögen: sie behindern in Form ihres massiven Missbrauchs in der Propaganda die Analyse der handlungsleitenden Interessen und die Suche nach einem tragfähigen Interessenausgleich.

Klar: Putin war zum Krieg nicht gezwungen. Er hätte akzeptieren können, dass USA und Ukraine die Vereinbarung von Minsk weiter boykottieren; dass die Garantiemächte dieser Vereinbarung, Deutschland und Frankreich, nichts dagegen tun / tun können; er hätte akzeptieren können, dass die Ukraine über kurz oder lang der NATO beitritt; er hätte akzeptieren können, dass weder die USA noch die EU zu Verhandlungen über Sicherheitsinteressen Russlands bereit waren.

Er hat sich zu einem Krieg entschieden. Plötzlich scheint die Ukraine entgegen ihrer bisherigen kategorischen Ablehnung die militärische Neutralität zu erwägen. Ohne die Gräuel und Zerstörungen dieses Krieges war das offenbar unmöglich.

In alten Zeiten galten Krieg und Eroberung als Heldentaten. In einer eng gewordenen Welt wechselseitiger Abhängigkeiten zeugt jeder Krieg nur noch vom Unwillen, über unterschiedliche Interessen zu verhandeln und zu einem zivilisierten Interessenausgleich zu kommen. Um diesen Unwillen zu verschleiern, stimmen Politik und Medien ein widerliches moralisches Tremolo an und stilisieren den Krieg zu einem Kampf von "Gut" gegen "Bös" und blockieren so weiter eine Verhandlungslösung.

Den Unwillen zu einer Verhandlungslösung hauptsächlich Russland zuzuschreiben halte ich für faktisch falsch.

Diese Sicht ist unzutreffend?

Egal. Ob jemand meine Sicht teilt oder nicht: das Resultat ist ein kaum heilbarer Bruch zwischen einem gestärkten US-Einflussbereich in Europa und Russland. Ich halte diese Weichenstellung für fatal, muss sie aber zur Kenntnis nehmen:

1) Der herrschende Wille in der EU fordert im Einklang mit den USA die totale ökonomische, politische und kulturelle Abschottung der Mitgliedsländer von Russland. Sogar zu Sowjetzeiten gab es bessere Beziehungen - zumindest seitens einzelner, damals unabhängiger Länder.

2) Russland hat sich damit abgefunden. Als unabhängigen Verhandlungspartner nimmt Russland die EU ohnehin nicht mehr ernst. The European Union has proven its incompetence as an organization that is capable of fulfilling the agreements being reached hat Lawrow jüngst festgestellt im Hinblick auf drei unerfüllte Vereinbarungen: den EU-Kompromiss vor dem US-instrumentierten Putsch („fuck the EU“), Minsk I und Minsk II.

3) Was sind die Konsequenzen für Wirtschaft treibende / für arbeitende Bürger in der EU, wenn ihre Regierungen auf unabsehbare Zeit in permanenter Konfrontation mit Russland / China verharren?

Wie sieht es mit der Energie-Beschaffung / den Energiekosten in absehbarer Zeit aus?

Welche Rolle spielt dabei der bisher so prioritäre „Klimaschutz“?

Welch neue Abhängigkeiten entstehen durch den Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland?

Worin bestehen die Kosten dieser neuen Abhängigkeiten - politisch, ökonomisch, kulturell?

Bis wann schaffen Innovationen im Energiebereich nicht nur in der Propaganda Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern?

Wird die „immerwährende“ militärische Neutralität Österreichs in dieser EU nicht zum Witz?

Was kostet künftig das Bundesheer / die „EU“-Armee unter dem Kommando der NATO?

An welchen Punkten werden sich politische Auseinandersetzungen innerhalb Österreichs / der EU nun entzünden?

etc. etc.



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