Futurologie |
28. 01. 2022 Über Singularität. Die Verschmelzung von menschlicher und künstlicher Intelligenz. Ein Blick nach vorne hat ein erfolgreicher, innovativer Kapitalmarktexperte in meinem Club referiert. "Singularität" - das ist der Zeitpunkt, an dem die künstliche Intelligenz nach dem Glauben von ich-weiß-nicht-wie-vielen IT-Spezialisten die menschliche übertrifft. Von da an optimiert sie sich selbst und entwickelt sich unbegrenzt weiter. Ist das "Verschmelzen" von künstlicher und menschlicher Intelligenz mehr als eine Metapher? Ein Gehirnchip zur Verbesserung des Denkvermögens wäre mit dem Organismus ja nicht "verschmolzen", sondern nur verbunden. Zum "Verschmelzen" bedürfte es spezifischer Eingriffe in die Erbsubstanz zur kontrollierten Veränderung von Organismen. Dann wäre die Feststellung Sigmund Freuds überholt, dass der Mensch nur ein "Prothesengott" sei: Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er all seine Hilfsorgane anlegt, aber die sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen [Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Studienausgabe, Band 9, S. 222] Aus der Welt scheint das nicht, aber noch ist es nicht so weit. Maschinen, die selbständig Entscheidungen treffen, nachdem sie mit der Intelligenz des Entwicklers verbunden / "verschmolzen" wurden, gibt es aber schon. Der Referent hat selbst eine solche engine entwickelt. Soweit ich die Information dazu nachvollziehen kann, sucht diese Maschine nach langfristig konsistenten Mustern aus einer Fülle relevanter Daten, um selbständig optimale Entscheidungen im Devisenhandel zu treffen. Ob die Maschine sich diese Daten auch schon ohne menschliches Zutun verschafft und laufend aktualisiert hab' ich leider nicht gefragt. Ich vermute: nein. Kann aber noch kommen, wer weiß. Was nach dem Eintritt der Singularität geschieht, so sie je eintritt, weiß niemand. Die Phantasie der Futurologen, Schriftsteller und Drehbuchschreiber bewegt sich dabei zwischen utopischen und dystopischen Szenarien. In einem optimistischen, utopischen Szenario entwickelt die Künstliche Intelligenz Technologien im Dienst der Menschen, die zu paradiesischen Zuständen führen. Das ist ein alter Traum: Wenn nämlich jedes Werkzeug auf einen Befehl hin oder einen solchen schon voraus ahnend, seine Aufgabe erfüllen könnte, wie man das von Standbildern des Daidalos oder den Dreifüßen des Hephaistos erzählt, von denen der Dichter sagt, sie seien von selbst zur Versammlung der Götter erschienen, wenn also auch das Weberschiffchen so webte und das Plektron die Kithara schlüge, dann bedürften weder die Baumeister der Gehilfen, noch die Herren der Sklaven [Aristoteles, Politik, 1254 a] In pessimistischen, dystopischen Szenarien wendet die Künstliche Intelligenz sich gegen ihren Schöpfer. Phantasien, in denen ein Produkt sich gegen seinen Schöpfer wendet, gibt es auch seit je, vom Golem über Frankensteins Unhold bis zum Terminator. Solche Phantasien entspringen wohl der Erfahrung von "Entfremdung", wie etwa Karl Marx sie geschildert hat. Ein perfektes totalitäres System hingegen ist eine realitätsnähere Dystopie: Jede Lebensregung eines jeden Individuums wird registriert. Die dabei gewonnenen und gespeicherten Informationen können jederzeit zu disziplinären / politischen Zwecken verwendet werden. Auch dazu gibt es spätestens seit Orwells "1984" viele ausgesponnene Versionen in der Literatur und im Kino. Freilich: In "1984" konnten Julia und Winston sich in einem Waldstück noch unbeobachtet / nicht abgehört fühlen. Das ist technisch überholt. Jedermann ist an jedem Ort dieser Welt aufspürbar, abhörbar, fotografierbar. Das Abhören von Frau Merkel, die Auswertung und Publizierung vermeintlich vertraulicher Chats lassen nur ahnen, was an Überwachung schon praktiziert wird. Die Realität liegt meist zwischen Utopie und Dystopie. Ich habe im Lauf meines Lebens den Eindruck gewonnen: der Fortschritt von Wissenschaft und Technik macht die Welt weder besser noch schlechter, sondern nur anders. Vielleicht sind die Space-Western gar nicht so unrealistisch: im Star-Wars-Universum etwa wird unterdrückt, geraubt, gemordet und gekämpft wie eh und je, nur die Instrumente sind anders und von geradezu monströser Kraft und Dimension. Die Guten und Bösen kreuzen keine Klingen mehr aus Stahl, sondern lightsabers. Sie schießen aufeinander nicht mit Pfeil und Bogen, sondern mit Strahlenwaffen. Die gesamte Biosphäre eines Himmelskörpers verfällt dem Genozid: der Todesstern zerstäubt einen ganzen Planeten. Bevölkert wird dieses Universum von einer Unzahl höchst unterschiedlicher bis grotesker Wesen, als hätte die Menschheit sich mithilfe der Gentechnik in zahllose lebensfähige Mutationen mit differenzierten Potentialen aufgespalten. |
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