USA-EU-RUS |
19. 01. 2022 Die Beziehungen zwischen der EU und Russland sind auf einem bisher unerreichten Tiefpunkt angelangt. Geht es noch tiefer? Ich vermute: Ja. Und die Beziehungen werden nahe dem absoluten Nullpunkt wohl auf unabsehbare Zeit verharren. Warum? Die EU beansprucht, „Europa“ zu sein. Damit sagt sie den Europäern außerhalb der EU: nur wenn ihr ganz genau so werdet wie wir, könnt auch ihr zu Europa gehören. „Genau wie wir“ heißt aber nicht nur „demokratisch“, „rechtsstaatlich“. Es heißt auch und nicht zuletzt „innerhalb des atlantischen Bündnisses“, dh innerhalb einer Organisation, in der die USA den Ton angeben. Das NATO-Kriterium ist so wichtig geworden, dass die EU seit dem Krieg gegen Jugoslawien bei ihrer Erweiterungspolitik über ökonomische, rechtsstaatliche, demokratische Defizite der Kandidaten rasch hinweg gegangen ist - im Unterschied zu früheren Beitrittswerbern wie Österreich. Selbst mit den bizarren politischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen in der Ukraine hat sie kein Problem. Entgegen der ursprünglichen Versicherung, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, agiert die EU unter Führung der USA seit dem Bankrott der Sowjetunion außenpolitisch vielmehr als eine Art Wirtschafts-NATO. Heute morgen erklärt ein Qualitätsblatt, dass die NATO betreffend Osterweiterung kein Versprechen gebrochen [STANDARD] habe. Eine dreiste Lüge, wie u. a. dieses Video einer Erklärung Genschers und Bakers beweist - solange es nicht aus dem Netz entfernt wird. Diese Propaganda erinnert mich an die Wochen vor dem Überfall der NATO auf Jugoslawien. Die Russen haben unter dem Trunkenbold Jelzin mit dieser Form der „Kooperation“ schlechte Erfahrungen gemacht und sie als Kapitulation und Ausverkauf erlebt. Putin hat die Oligarchen unter Kontrolle gebracht und die Ressourcen Russlands vor dem Zugriff des westlichen Kapitals / dem billigen Ausverkauf gesichert. Statt dessen hat er um Kooperation mit Europa auf Augenhöhe geworben. Eine "Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok" wäre dazu ein pragmatischer Rahmen gewesen - war das nicht das Erfolgsgeheimnis der EWG auf dem Weg zur EU? Die wenigen Befürworter dieser Strategie in der EU hatten und haben jedoch keine Chance sich damit durchzusetzen. Auch der Präsident der Europäischen Wirtschaftskammer hat diesen Ansatz vergeblich beworben. Dieser Ansatz zur Überwindung von Grenzen und zur Bildung von Vertrauen - ausgerichtet auf das Fernziel einer echten europäischen Integration - stand und steht quer zur transatlantischen Bindung an die USA. Ein Projekt wie Nordstream 2 geht den Wächtern schon zu weit. Die USA haben nicht das geringste Interesse an einem geeinten Europa unter Einbindung Russlands, ganz im Gegenteil. Also versuchen EU, NATO und USA nach wie vor, Russland einzuengen wo immer es geht und rund um Russland und in Russland selbst Kräfte zu fördern, die sich der NATO / dem westlichen Kapital widerspruchslos unterordnen, in der Hoffnung, dass Russland irgendwann kapituliert und sich ergibt, wie das unter Jelzin ansatzweise der Fall war. Da Russland dazu keine Anstalten gemacht hat und macht, sind die Beziehungen zwischen EU und RUS immer kühler geworden. Jetzt stehen sie vor dem Abbruch.
Solange die EU sich in einer "transatlantischen Front" mit den USA verschanzt, kann es kein geeintes Europa geben, wie es de Gaulle ("vom Atlantik bis zum Ural") und später Gorbatschow vorschwebte ("Gemeinsames Haus"). Eine Emanzipation der EU von den USA halte ich für unrealistisch. Die jahrzehntelange ideologische Ausrichtung der EU-Elite an den USA - angefangen vom Marshall-Plan, den Fulbright-Stipendiaten bis zur Atlantik-Brücke und ähnlichen Organisationen - lässt das einfach nicht zu. In den Nationalstaaten der EU und in Brüssel kommen aufgrund dieser systemischen Ausrichtung nur Politiker in maßgebliche Funktionen, wenn sie auf diese Orientierung zweifelsfrei eingeschworen sind. Ähnliches gilt für die Chefredaktionen, die Moderatoren und Kommentatoren der Leitmedien. Die deutschen Grünen sind dafür das lehrreichste Beispiel: Leute wie der Parade-Opportunist Joschka Fischer haben aus einer ursprünglich kapitalismuskritischen / friedenspolitisch orientierten Bewegung die strammsten Jünger des Pentagons gemacht - seither dürfen sie regieren. Sogar in der Partei „Die Linke“ gibt es Leute, die sich für die NATO stark machen, um als koalitionsfähig zertifiziert zu werden. Die Linke freilich ist mittlerweile so schwach, dass sie dazu nicht gebraucht wird. Die EU kappt die Nabelschnur zu den USA nicht, wird kein selbständiger Akteur auf der Weltbühne und Europa bleibt auf unabsehbare Zeit gespalten.
Die Variablen in dieser Wahrscheinlichkeitsrechnung können in der Dynamik der weltwirtschaftlichen und geopolitischen Entwicklung unterschiedliche Werte annehmen. Sinkt etwa das Gewicht der USA in diesem Spiel, kann das Veränderungen in der EU auslösen. In welchem Ausmaß, in welcher Richtung, mit welchen Effekten? Meine Kristallkugel ist dazu noch dunkel. Ergänzung 19. 01. 2022 Ein Freund schreibt mir: Wie immer eine gute Analyse, aber mir zu einseitig. Du machst jetzt den Fehler (den du anderen häufig vorwirfst), dass Putin "nur" der gute und unschuldige ist und seine Gegner sind genau das Gegenteil. Dies glaubst du wohl selber nicht - oder? Ich argumentiere aus der Position eines Europäers, der die Hegemonie der USA in Westeuropa für europaschädlich hält, weil sie amerikanischen Interessen und nicht europäischen Interessen dient. Das ist parteilich / einseitig, gewiss. Putin halte ich nicht für „gut“, sondern für einen nüchternen, rationalen Politiker, der Russlands Interessen wahrt. Weil er rational agiert, halte ich ihn für einen vertragstreuen Partner. Verlässliche Geschäftspartner waren auch die Sowjets. Beim Personal auf der Gegenseite registriere ich mehr Moral, "Werte" und Empörung als Nüchternheit. Dahinter verbergen sich aber auch nichts anderes als ökonomische, politische und militärische Interessen. Wenn Interessen mit Moralin behübscht werden, verdienen sie einen besonders kritischen Blick. Dazu kommt Inkompetenz. Lawrow verhandelt mit keinem Kissinger. Ansprechperson in Deutschland ist gar Frau Baerbock. Selbst harte Atlantiker machen sich Sorgen über ihre Eignung, vgl. etwa einen Kommentar von Paul Lendvai |
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