Gescheitert |
04. 12. 2021 Ein Blender, ein begabter Inszenierer ohne Substanz, ein Narzisst, ein amoralischer Macchiavellist.... sei an sich selbst gescheitert. So das Glockengeläut der Kolumnisten / Intimfeinde von Kurz. Von Spott, Häme und Jubel begleitet wirft Kurz nach zwei fulminanten Wahlsiegen und zwei unausgeschöpften Regierungsperioden das Handtuch und scheidet aus allen politischen Funktionen. Die extreme Personalisierung des Geschehens durch die Medien verstellt den Blick für die politischen Kräfte, die seine Wahlerfolge ermöglicht und jene Kräfte, die seinen Sturz herbeigeführt haben. In seinem Abgangs-Statement hat Kurz als Schwerpunkte seiner Politik vor allem die Begünstigung und steuerliche Entlastung arbeitender Menschen, die Bändigung ungehemmter Migration und das Eintreten für Subsidiarität in der EU angeführt. "Geh! Das war doch alles nur Marketing! Nur Inszenierung!" So? Sehen wir näher hin. Es sind Positionen, die viele Feinde auf den Plan rufen, zB Politiker und Institutionen, die aufgrund ihrer Wählerstruktur / ihres Klientels auf Transferleistungen mehr setzen als auf das Einkommen aus Arbeit; Politiker und Institutionen, die einen strikten Kurs gegen illegale Migration heftig ablehnen; Politiker und Institutionen, die in der EU die Entmachtung der Nationalstaaten und in Österreich die Entmachtung der Länder zugunsten zentraler Regulierung betreiben. Fakt ist: 1) Die behutsame Sozialpolitik der Kurz-VP hat es der SPÖ schwer gemacht, Kurz glaubwürdig "soziale Kälte" anzudichten, wie dies etwa bei Schüssel sehr viel leichter war. 2) Zum Rückhalt von "Türkis" unter Wirtschaftstreibenden hat die betonte Wertschätzung der Arbeit durch Kurz und seine Kritik an der katastrophalen Arbeitsmarktsituation in Wien beigetragen, wonach in Wien immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um arbeiten zu gehen (Kurier - 13/1/2019). Dazu einige aktuellen Zahlen aus der November-Statistik des AMS 2021: Das AMS Wien weist 38 Prozent aller Arbeitslosen und 48 Prozent aller Langzeitarbeitslosen Österreichs aus und bietet 15,7 Prozent aller offenen Stellen an - bei einem Bevölkerungsanteil Wiens von 21,5 Prozent 3) Auch die Unterbindung illegaler Migration hat Steuer zahlenden Lohnarbeitern gedient: ein ungehemmter Strom meist gering qualifizierter Einwanderer aus nicht-europäischen Kulturkreisen drückt den Preis der Arbeitskraft und erhöht öffentliche Aufwendungen für Integration und Qualifizierung. 4) Die großen parteinahen und kirchlichen Sozialkonzerne haben all das gar nicht gutiert. Ebenso wenig Parteien, die auf proletarisierte Migranten als Wählerpotential setzen und Arbeitgeber, die am permanenten Nachschub billiger, alternativloser Arbeitskräfte interessiert sind, die aus öffentlichen Mitteln qualifiziert werden. 5) Auf europäischer Ebene hat Kurz Marken gesetzt und Koalitionen geschmiedet, die vor allem im vorherrschenden BOBO-Milieu Merkel-Deutschlands ganz schlecht angekommen sind (Migration, Schuldenunion). Die in der EU tonangebenden Transatlantiker haben ihm misstraut, weil er Sanktionen gegen Russland nicht begeistert mitgetragen und Gesprächskanäle zu Ungarn, Serbien, Polen etc im Interesse der österreichischen Wirtschaft offen gehalten hat. 6) In der Folge hat Kurz der SP und der FP zweimal Wähler abgenommen. Der FP solche, die eine ungesteuerte Migration aus islamischen / afrikanischen Kulturen zwar ablehnen, denen der "völkische" Kurs vieler FPÖler aber zu engstirning und rabiat ist. 7) "Kurz muss weg!" Unter dieser Losung hat eine informelle, öffentlich geradezu unmögliche Koalition von Neoliberalen, BOBO-Linken und Rechtsextremen Kurz attackiert. Nicht nur in Österreich, auch in manchen EU-Staaten. Der Luxemburgische Außenminister hat sich dabei öffentlich immer wieder besonders hervorgetan. Politisch prallten diese Attacken aufgrund des Rückhalts von Kurz in der Wählerschaft lange ab. Erst mithilfe der Justiz und der hartnäckigen Kampagne von Kurz-feindlichen Medien (vom SPIEGEL bis zum FALTER) hat diese Koalition es geschafft.
Dass dabei auch das "schlechte Pandemie-Management" maßgeblich war, halte ich für eine hochgespielte Petitesse. Keine Regierung in einem demokratischen Land hat bisher den Stein der Weisen im Umgang mit der Pandemie gefunden. Für meinen Geschmack am ehesten Schweden. Dort scheint alles zumindest ohne politisierte Hysterie, Panik und Empörung abzulaufen. Schweden liegt in einer Studie zum Nachhaltigen Regieren im Kontext der Coronakrise jedenfalls im Spitzenfeld. Ob die staatsanwältlichen Vermutungen und Ermittlungen ihre Solidität vor Gericht erweisen, wird sich herausstellen, war politisch aber egal. Zur Zermürbung des Ansehens und Rückhalts von Kurz und zu seinem Sturz hat die Verbreitung "amoralischer" chats und der Vorwurf der "Korruption" jedenfalls gereicht. Vermutlich wird die Justiz keine Eile an den Tag legen. Je länger von Zeit zu Zeit Splitter aus Ermittlungen an die Öffentlichkeit gespielt werden, die sich zur medialen Vorverurteilung eignen, umso belangloser wird der Ausgang des gerichtlichen Verfahrens irgendwann in der Zukunft. Mit dem Sturz von Kurz ist das Ziel seiner Gegner freilich noch nicht erreicht. Erst wenn sie die VP dazu gebracht haben, sich nicht nur von Kurz, sondern von seinen "türkisen" Positionen abzusetzen, können sie zufrieden sein. Das könnte schleichend in einer neuen GROKO geschehen. Diese Option wird vermutlich von "schwarzen" VP-lern angepeilt, vielleicht auch von manchen SPlern. Im Proporz ist es beiden Parteien seit je gut gegangen. "Postenschacher" war nicht unmoralisch und schon gar kein juristisches Problem. Dem entgegen steht die relative Schwäche von VP und SP im Vergleich zu politischen Kräften, die sich in den letzten Jahrzehnten gegen die Volksparteien formiert und ausschlaggebende Wähleranteile besetzt haben. Den "gefährlichen" türkisen Polit-Mix zu brechen ginge daher am besten in einer Dreierkoalition von SP, NEOS und Grünen. In Deutschland formiert sich gerade eine solche Koalition. Dort ist kein Kurz für den Niedergang einer aufgeklärten konservativen Volkspartei verantwortlich. Verantwortlich ist eine Kanzlerin und Parteivorsitzende, die durch ihren langen, unprofessionellen Abgang Chaos in ihrer Partei erzeugt und unentschiedene Richtkämpfe ausgelöst hat. Im Unterschied zu Kurz wird diese Dame mit höchsten Ehren verabschiedet. Ergänzung - 05. 12. 2021 Zur angeblich langjährigen Rolle der "Kronen-Zeitung" bei der Bestellung von Ministern ist eine Recherche des Medienwissenschafters und Plagiatjägers Stefan Weber auf Telepolis lesenswert. Der Beitrag wirft Licht auf die systemische wechselseitige Unterstützung von Mediengestaltern und Politikern aller Farben, katalysiert durch staatliche Inseratenfinanzierung / Medienförderung. - In einer Diskussion in kleiner Runde habe ich neulich die Kritik Neil Postmans am "Infotainment" und Brzezinskis Zynismus zum "Tittytainment" zitiert. Der angesprochene Journalist hat darauf gemeint: "Ja, das meiste (gemeint: in Medien veröffentlichte Inhalte) ist gekauft". So ruchlos freilich sei nur die private Konkurrenz. Im Kontrast dazu erheitert mich die treuherzige Darstellung des Verhältnisses von Medien und Politik in einem Interview mit dem Medienwissenschafter Bernd Pörksen im STANDARD: Kurz hat demnach mit Medien ausschließlich "gekuschelt". "Gejagt" worden ist er von Medien nur in seiner unverfrorenen Phantasie. Ergänzung - 30. 01. 2022 In den letzten Tagen ist ein "Sideletter" der derzeitigen Koalition in der Öffentlichkeit aufgetaucht, in dem Postenbesetzungen abgesprochen werden. Der grüne "Postenschacher" beinhaltet zum Beispiel den Abtausch eines Kopftuchverbotes für Lehrerinnen (VP-Wunsch) gegen die Besetzung des Stiftungsratvorsitzenden im ORF durch den ehemaligen Grünpolitiker und Wahlkampfleiter van der Bellens Lothar Lockl. Da die BOBO-Fraktion der JournalistInnen sich gewiss freut, weil ihre "kulturelle Hegemonie" (Gramcsi) in den Medien damit gefestigt wird, bleibt die Empörung in der veröffentlichten Meinung im Vergleich zum "türkis-blauen Postenschacher" aus. |
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