Der Zwang zur Heuchelei |
01. 09. 2021 Seit Menschen Aufzeichnungen über ihr Verhalten führen, berichten sie von Kriegen und Triumphen über andere Menschen. Die Besiegten bleiben meist stumm und werden vergessen. Die frühen Aufzeichnungen über den Krieg beschönigen nichts. Die Sieger berauben, versklaven, vertreiben oder massakrieren die Besiegten, je nachdem, ob sie deren Gebiet nur plündern oder ob sie sich selbst dort niederlassen wollen. All das geschieht völlig unverhohlen, nicht selten auf göttlichen Befehl: In der Sache scheint sich seit der Antike wenig geändert zu haben. Die Kolonisierung der halben Welt durch Spanier, Portugiesen, Holländer, Engländer, Franzosen, Deutsche - begleitet von Völkermord, Sklavenhandel und Sklavenarbeit -, die Raub- und Eroberungszüge der Nazis, die Vertreibung der Deutschen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, die Vertreibung der Palästinenser aus Palästina, das Massaker in Srebrenica, die Vertreibung der Serben aus der Krajna und aus dem Kosovo, die Vertreibung der Rohingya aus Myanmar... all das war erst gestern oder ist aktuell. Auf göttlichen Befehl freilich morden und erobern heutzutage fast nur noch islamistische Fanatiker. Die Kriegsminister anderer Nationen sind längst zu "Verteidigungsministern" mutiert. Diese Staaten führen Krieg nicht mehr aus Raub- und Eroberungsabsichten. Sie überfallen andere Länder nur, um Gefahren für das eigene Land abzuwenden, um Zivilisation, Menschenrechte, Demokratie und Freiheit zu verteidigen oder in rückständigen Ländern einzuführen. Ist in diesen Staaten das Interesse an der Erweiterung des Herrschafts- und Einflussbereiches, an Bodenschätzen und Reichtümern anderer Länder, an ausbeutbaren Arbeitskräften etwa erloschen? Oder wird dieses Interesse nur versteckt hinter der Proklamation hehrer Absichten? Falls ja: warum ist das so? Mir scheint, das Missverhältnis zwischen dem globalen Bevölkerungswachstum und den begrenzten Ressourcen des Planeten spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Jedes bewohnbare Plätzchen auf dem Planeten ist mittlerweile besetzt, zum Teil übervölkert. Voreinander ausweichen können Völker nicht mehr. Leere Fluchträume sind Geschichte. Je enger die Menschen aufeinander rücken, umso erforderlicher ist ihre Verhaltensregulierung mittels Normen, Recht und Moral, um Gewalt, Anarchie und Chaos zu minimieren. Das erzwingt Heuchelei, wenn einzelne Politiker / Staaten Absichten verfolgen, die weder vom eigens dazu entwickelten Völkerrecht noch von der offiziellen Moral gedeckt sind. Der Zwang zur Heuchelei bei der Verfolgung nicht astreiner Interessen erfordert in modernen Staaten einen beträchtlichen ideologischen Überbau zur Rechtfertigung solcher Aktionen: im Bildungssystem, in der Religion, in der Wissenschaft ("Experten" für die Auslegung des Rechts, für Geschichte, Politik, Moral...), in der Publizistik, in Kunst und Kultur, heutzutage vor allem im Film und im Fernsehen. Widerstand gegen die Vernebelung nüchterner Urteilskraft wird so erschwert. Im Krieg heucheln zu müssen ist freilich Indiz eines echten zivilisatorischen Fortschritts zwischen den Völkern. Er schlägt sich im vielfach geschundenen Völkerrecht nieder und in Institutionen wie der UNO. Diese hat zwar keine eigene Macht, wird aber oft als Plattform für Verhandlungen und Vereinbarungen der wirklich Mächtigen genutzt. Auch der Umgang mit kritischen Geistern und Abweichlern hat sich etwas zivilisiert. Sie werden seltener als früher exekutiert. Sie landen eher im Gefängnis oder werden mithilfe herrschaftsdienlicher Medien mundtot gemacht. Ihr Zugang zur Öffentlichkeit wird gesperrt (selbst das Twitter-Konto eines Präsidenten), sie werden als Verräter (Assange, Snowden), als Narren (Handke) oder als Verschwörungstheoretiker (etwa Leute, die den militärisch-industriellen Komplex für kriegstreibend halten) sozial gebrandmarkt und so entschärft. 05. 09. 2021 Sehr guter Beitrag. Die Schlussfolgerungen im letzten Absatz teile ich allerdings überhaupt nicht. Zu diesen Mitteln greifen ALLE und insbesondere die "Querdenker" und Extremisten schreibt mir ein Freund. Ich stelle klar: Alle Regime gehen gegen kritische Geister / Abweichler vor, nicht selten rüder als westliche Regime. Ich habe Beispiele aus dem Westen zitiert, weil Ideologen den Balken im eigenen Auge ignorieren. Hinweise darauf schusseln Lohnschreiber meist mit "Whataboutism" ab - ein läppischer Trick schwarzer Rhetorik. Extremisten / religiöse Eiferer ermorden Kritiker / Andersgläubige nach wie vor. Keineswegs nur der "Islamische Staat". Der Journalist Jamal Khashoggi z. B. wurde in der saudi-arabischen Botschaft in Istanbul vermutlich auf höchsten Befehl hin getötet, seine Leiche unauffindbar entsorgt. Sanktionen des Westens gegen Saudi-Arabien sind mir nicht bekannt. "Querdenker" sind nach meiner Wahrnehmung so machtlos, dass sie niemanden mundtot machen können. Umgekehrt: Ihre Demonstrationen werden oft verboten, etwa im Unterschied zu Gay-Pride-Paraden. Dieser unterschiedliche Umgang des Staates mit öffentlichen Bekundungen ist ein hübsches Beispiel für die Herrschaftstechnik der selektiven Toleranz. |
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