Religion

01. 03. 2020

Unter dem Titel "Religion in einer säkularen Zeit" referierte jüngst ein katholischer Würdenträger über die Funktion und Bedeutung der Religion in einer Runde, an der auch ich teilnahm.

Er hielt unter anderem fest, dass Religion nicht auf ihre soziale Nützlichkeit, auf ihre sozialethische Rolle reduziert werden könne. Der Kern von Religion sei Spiritualität, also - laut Wikipedia - die Hinwendung, die unmittelbare Anschauung oder das subjektive Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt.

Die sozialethische und kulturelle Bedeutung der Religion steht wohl außer Zweifel - zumindest, was die Vergangenheit betrifft. In entwickelten Gesellschaften setzen sich zunehmend säkulare Autoritäten und Techniken der sozialen Kontrolle durch: vom Strafgesetzbuch bis zum totalitären Sozialkredit-System Chinas.

In meinem Diskussionsbeitrag stimmte ich dieser Positionierung der Religion daher zu: der verstandesmäßige Zugang zur Wirklichkeit biete nur begrenzten Sinn und keinerlei Sicherheit und Geborgenheit, im Gegenteil. Hypothesen über die Wirklichkeit müssen wir Tag für Tag über Bord werfen, weil sie der Erfahrung nicht standhalten.

In dieser Unsicherheit und Unbehaustheit zu verweilen halten die meisten Menschen nicht aus. Sie "springen" in einen Glauben, wie Kierkegaard zutreffend sagt. Camus hingegen lehnt diesen Sprung als "Ausweichen" vor dem Absurden ab.

Ich bat um Nachsicht über die saloppe Formulierung und fragte daher, worin "der Mehrwert der katholischen Kirche auf dem Markt der Angebote für Sicherheit und Geborgenheit" bestehe. Unter diesem Markt verstünde ich die Vielfalt an christlichen und nichtchristlichen Konfessionen, an politischen Heilslehren bis hinunter zur Astrologie und Homöopathie.

Das war zweifellos eine boshafte Frage und ich rechnete nicht mit einer klaren Antwort.

Der Würdenträger lehnte die Konzeption des "Marktes" ab und kehrte den Spieß um: es ginge in der Zuwendung zur Religion um die Suche nach einer Gemeinschaft, in die das Individuum sich sinnhaft einbringen könne.

Das war rhetorisch gesehen keine schlechte Antwort. Der Mann verwies damit allerdings nur auf die sozial-ethische Dimension der Religion, auf die reduziert er sie ja nicht wissen wollte.



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