Moral und Recht

17. 1. 2020

Ein Fußballspieler begeht ein taktisches Foul. Er sieht dafür Rot, ermöglicht seinem Klub aber den Sieg. Er wird zum "Man of the Match" gewählt. Sogar der Trainer der unterlegenen Mannschaft äußert Verständnis.

Die ÖVP überzieht die gesetzlich beschränkten Wahlkampfkosten. Sie bezahlt dafür Strafe, aber das bewusste Vergehen hat sich "voll ausgezahlt".

In beiden Fällen verletzen die Akteure eine Regel im Interesse eines subjektiv "höheren" Zieles. Die Moralvorstellungen von Real Madrid und der ÖVP decken dieses Verhalten. Die vorgesehenen Sanktionen werden verhängt und in Kauf genommen.

Kritik an dieser Regelverletzung hält sich in Grenzen oder hat eher den Charakter von Krokodilstränen.

An solchen Vorgängen und Reaktionen ist ein pragmatisches Verhältnis der Menschen zu Regeln, Recht und Gesetz erkenntlich: man riskiert einen Regelbruch, wenn es sich auszahlt - und stößt dabei auf das Verständnis seinesgleichen.

Beruht das friedliche Zusammenleben der Menschen aber nicht darauf, dass die Menschen sich an allgemeingültige Regeln halten?

In der Praxis genügt es wohl, wenn die MEISTEN Menschen sich in den MEISTEN SITUATIONEN an allgemeingültige Regeln halten.

Moralvorstellungen - ob die eines Fußballvereines oder einer politischen Partei - sind subjektiv und völlig ungeeignet, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten.

Den Zusammenhalt der Gesellschaft sichert nur das positive Recht und die Macht, es zu exekutieren - ohne die Illusion, dass sich alles regeln und die unbändige menschliche Natur sich gänzlich zähmen lässt.

Dem Völkerrecht fehlt die Exekutivgewalt einer "Weltregierung". Einzelstaaten sorgen daher immer wieder selbst für "Recht und Ordnung" in der Welt nach ihrer eigenen Facon.

Ohne völkerrechtliches Mandat erscheinen ihre Aktionen jedoch als Machtausübung im eigenen Interesse. Sie verschleiern ihre Überfälle auf andere Staaten daher gern hinter "höheren", hinter moralischen Motiven.

19. 1. 2020

Ein kritischer Leser wendet ein:

Die Moralität der Menschen sei vom positiven Recht unabhängig. Moralische Grundsätze seien universeller als das Recht einzelner Staaten. Moralität sei daher eine noch wichtigere Voraussetzung zum friedlichen Zusammenleben der Menschen als alle Gesetze zusammen und durch Erziehung beeinflussbar.

Diese Kritik erfordert eine Differenzierung und Erläuterung meiner Sichtweise:

Moral wurzelt in einem besonderen naturwüchsigen Verhalten gegenüber nächsten Angehörigen, gegenüber der Sippe.

Dieses besondere Verhalten ist geprägt von Gewalthemmung und Fürsorge im Unterschied zur Gleichgültigkeit, Konkurrenz und Aggression gegenüber Individuen der gleichen Art, die nicht zu diesen Nächsten gehören. Diese unterschiedlichen Verhaltensmuster sind stammesgeschichtlich uralt und gehören zum Instrumentarium der Evolution.

Aus dieser Wurzel bildet das Recht sich heraus als gemeinsamer Nenner beim Zusammenschluss von Sippen zu Stämmen und Staaten.

Insofern ist die Moral älter und universeller als das Recht. Moral aber wird nicht zum Recht und das Recht nicht zur Moral:

Moral wirkt nach wie vor am ehesten in der Sphäre der jeweiligen "Identität", also im Verhalten gegenüber Familienmitgliedern, Glaubensgenossen, Vereinsmitgliedern, Angehörigen derselben Partei etc. Personen, die zu anderen, oft konkurrierenden Gruppierungen innerhalb desselben Rechtsverbandes zählen, werden vor dieser selektiven Moralität nur durch das Recht geschützt.

Das Recht ist unwirksam, wenn es keine Autorität gibt, die es durchsetzt. "Auctoritas, non veritas facit legem" sagt Hobbes daher treffend. Fehlt diese Autorität, ist das Recht tot.

Beispiel Libyen: Staaten des westlichen "Wertesystems" haben aus ihrer Moralität heraus die Staatlichkeit Libyens unter Missachtung des Völkerrecht zerbombt. Seither herrscht Anomie. Unterschiedliche Kräfte kämpfen um die Vormacht.

Keine der beteiligten in- und ausländischen Interessengruppen mit ihrem spezifischen Wertesystem (= Moral) ordnet sich freiwillig dem Wertesystem der Konkurrenz unter. Bis eine Macht sich gegen alle anderen durchsetzt und Staatlichkeit wiederherstellt, dauert es, wie man sieht.

Ein neues einigendes Recht in Libyen ist bestenfalls auf dem Verhandlungweg als kleinster gemeinsamer Nenner der Konkurrenten möglich. Häufiger jedoch ist es das mehr oder weniger kluge Diktat des Siegers.



HOME  COME IN
GARDEN  ARTICLES