Verkalkuliert?

28. 07. 2019

Gemäß einer Absprache mit seinem Koalitionspartner sollte Kurz ca 30 Minuten nach der Rücktrittserklärung Straches die Fortsetzung der Koalition mit Vizekanzler Hofer bekanntgegeben.

Das geschah nicht.

Kurz stellte vielmehr eine unerwartete Bedingung: der FP-Innenminister solle zurücktreten. Das Innenministerium müsse mit einer Person seiner Wahl besetzt und könne nicht länger von der FP beansprucht werden.

Der Koalitionspartner lehnte ab. Kurz löste die Regierung auf und rief Neuwahlen aus.

Bis dahin wollte er mit einem Team seines Vertrauens weiter regieren. Daraus wurde nichts: FP und SP stürzten seine Allein-Regierung durch ein Mißstrauensvotum. Nach allem, was voraus gegangen war, konnte dies nicht überraschen.

Laut FP hat Kurz auf Drängen / auf Druck der niederösterreichischen und steirischen VP den Rücktritt Kickls und den Verzicht der FP auf das Innenministerium gefordert. Aus anderer Quelle wurde mir diese Darstellung bestätigt.

Über das Motiv / das Motivbündel, dem Kurz gefolgt ist, lässt sich trefflich spekulieren:

Das BZÖ Kärnten hat schon im April 2009 behauptet, dass die VP Neuwahlen für den Herbst plant. Diese Behauptung wurde damals - sechs Wochen vor der Veröffentlichung des Ibiza-Videos - als Unsinn, als Verschwörungstheorie abgetan.

Die FP geht davon aus, dass das Netzwerk der "alten" VP im Innenministerium eine Gelegenheit am Schopf packte, den unbequemen Kickl loszuwerden.

Die FP argwohnt darüber hinaus, dass VP-nahe Personen aus dem BVT an der Produktion / an der Verwertung des "Ibiza-Videos" beteiligt waren und diese Beteiligung auf keinen Fall ans Licht darf. Kickl musste deshalb aus dem Innenministerium weichen.

Nach den Recherchen der EU-Infothek ist diese Vermutung nicht unplausibel. Kurz soll zumindest vom Video schon länger gewusst haben. Diese Vermutung hat durch den "Schredder-Skandal" neue Nahrung erhalten. Kurz bestreitet dies natürlich.

Im übrigen politische double standards allenthalben:

Empört und anhaltend rufen viele Akteure der veröffentlichten Meinung nach Aufklärung der "Schredder-Affäre". Angesichts des Inhalts des Ibiza-Videos hingegen sei völlig uninteressant, wer es beauftragt und finanziert hat, suggerieren Leitartikler und Kommentatoren. Herr Wolf bagatellisiert diese politisch motivierte Straftat von seinem moralischen Hochstand im ORF. Kein Wunder, dass auch die Strafverfolgungsbehörden damit keine Eile haben.

Den Bruch der Regierung und rasche Neuwahlen schmackhaft gemacht hat dem jungen Kanzlers vermutlich das Vorbild Schüssels.

In der Tat konnte Kurz unmittelbar nach der Abwahl seiner Regierung mit dem Erfolg seiner Partei in der Europawahl und nach euphorisierenden Meinungsumfragen mit dem "Schüssel-Effekt" rechnen.

Eine Neuauflage der VP-FP-Koalition wird jedoch nicht nur von den bisherigen Oppositionsparteien, sondern auch von erklärten Gegnern dieser Koalition in der VP bekämpft. Massiv unterstützt wird diese Anti-FP-Linie von "liberalen" und VP-nahen Medien.

Die Anhänger einer Neuauflage der VP-FP-Koalition sind - wenn man Meinungsumfragen traut - in der FP- und VP-Wählerschaft ungleichmäßig verteilt. Eine deutliche Mehrheit der FP-Wähler will eine Fortsetzung der Koalition mit der VP. Unter den VP-Wählern hingegen hält sich die Begeisterung darüber in Grenzen. Unterm Strich aber ist diese Variante in der Bevölkerung immer noch am beliebtesten.

Der Wahlkampf wird vermutlich viel Irreführung, manche Überraschung oder gar Aufklärung bringen. Kurz ist jedenfalls nicht in der Lage - sofern er das überhaupt will - die Gegner einer Neuauflage der VP-FP-Koalition unter Kontrolle zu halten. Er hat seine Macht freiwillig aufgegeben in der Hoffnung, gestärkt aus der nachfolgenden Auseinandersetzung hervor zu gehen.

Kalkül oder Hybris? Egal. Es war ein machtpolitischer Fehler.

Ob und wie er diese Entscheidung zugunsten seiner ursprünglich deklarierten Ziele wenden kann und welche Koalition immer die Wähler im September ermöglichen: keine andere Regierung wird wohl die Schnittmenge an Zielen, Umsetzungsenergie und Vertrauen übertreffen, die die bisherigen Partner bis zum abrupten Ende ihrer Koalition vermittelt haben. Im Vergleich zum vorangegangenen, jahrelangen Gemurkse hat dies eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung als wohltuend empfunden.

Was aus dem Scherbenhaufen hervorgehen wird, den Kurz selbst mit angerichtet hat, kann nur gedämpfte Erwartungen erfüllen.

30. Juli 2019 - Nachtrag zur "Schredder -Affäre"

Heiter: Ein vor Tagen noch besonders Empörter offenbart erneut, welch blinde Flecken er in seiner Selbstwahrnehmung hat: Bevor die SPÖ das Kanzleramt räumte, ließ sie sieben Festplatten vernichten [DER STANDARD] - Kern gelingt es auch als Alt-Kanzler, seine Partei bis auf die Knochen zu blamieren.



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