Narrativ

12. 01. 2019

Zwei Intellektuelle, die sich als "links" verstehen, beklagen im STANDARD, dass es der Linken an "Narrativen fehlt, die Herz und Hirn ansprechen". Sie wollen daher "Den Stammtisch mit links erobern"

Dimmel und Fürst wünschen sich und der Linken

eine gemeinsame Klammer, ein Narrativ, das als Frame oder Interpretationsschema und Forderungskatalog dazu dient, dass die lohnarbeitende Klasse über Milieugrenzen hinweg von der Klasse an sich zur Klasse für sich wird

Dimmel und Fürst sehen die Lohnabhängigen in ihrer Vielfalt als "Klasse". Die Klasse der Lohnabhängigen aber hat leider kein "richtiges" Bewusstsein über diese Identität. Sie ist nur "an sich" eine Klasse, nicht "für sich".

In Übereinstimmung mit Kautsky, Lenin, Lukacs u. a. setzen Dimmel und Fürst daher auf eine "Elite", die das "richtige" Bewusstsein darüber besitzt und dieses Wissen in die Klasse der Lohnabhängigen hineinträgt:

Wenn zudem die Sozialdemokratie aus dem Koma erwacht, sich ihrer Wurzeln besinnt, die Grünen mit Pragmatik und als authentisch akzeptierte Eliten wie in Deutschland von den Toten auferstehen, dann wird ein linkes Narrativ die Menschen erreichen und das vorherrschende ablösen können

Was für ein Narrativ?

Die beiden Herren haben freilich ein Problem: Was genau diese Elite den Lohnabhängigen über ihre Identität, über ihre klassenrelevanten Interessen beibringen will - das ist erst zu entwickeln, denn die "Linke" scheint zerrüttet:

Es gibt kein kohärentes linkes Milieu, sondern wenn überhaupt eine heterogene Mosaik-Linke, die sich noch dazu gegenseitig kannibalisiert ... Vor diesem Hintergrund muss sich die Linke auf zentrale Positionen einigen, um Narrative zu entwickeln, mit denen sich die Lufthoheit auch über den Stammtischen wirklich erobern lässt ... Ein Einstieg in eine sozial inklusive, ökologisch nachhaltige Transformation kann nur als punktuelles Bündnis unterschiedlicher Initiativen, Gruppen und Bewegungen gedacht werden. Dieses muss auf Themen wie gute Arbeit, Umverteilung, ökologische Nachhaltigkeit, Wohnen, Verkehr und Soziales fokussieren. Es erfordert schicht- und milieuübergreifende Authentizität, und es muss die Sprache der Subalternen und Bildungsbürger sprechen, um die Stammtische auch wirklich zu erobern

Das Narrativ "Sozialismus"

Die Aufgabe, "Narrative" entwickeln, stellte sich den ersten Schülern von Karl Marx nicht: Für sie hatte Marx den Lauf der Welt definitiv durchschaut. Er hatte das Proletariat als revolutionäres Subjekt erkannt, das die Menschheit in den Sozialismus führen würde. Die "wissenschaftliche Weltanschauung des Proletariats" war das "Narrativ" seiner Schüler, der kategorielle Rahmen, in dem sie dachten und handelten, der "Frame", in dem sie die Vorgänge auf der Welt wahrnahmen, beurteilten und mitgestalteten.

Ihr Problem war "nur" die Umsetzung. Da freilich spießte es sich von Anfang an: Das Proletariat verhielt sich zum Leidwesen allwissender Marx-Schüler merkwürdig träge. Es verharrte im "Ökonomismus", wenn sich die Elite der Wissenden nicht um die ständige Stimulierung seines revolutionären Potentials kümmerte:

Der ökonomische Kampf „stößt“ die Arbeiter nur auf Fragen, die das Verhältnis der Regierung zur Arbeiterklasse betreffen, und wie sehr wir uns auch abmühen mögen mit der Aufgabe, „dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen“, wir würden es nie zustande bringen, im Rahmen dieser Aufgabe das politische Bewußtsein der Arbeiter (bis zur Höhe des sozialdemokratischen politischen Bewußtseins) zu entwickeln, denn dieser Rahmen selbst ist zu eng ... Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern ... In unserer Zeit kann nur die Partei zur Avantgarde der revolutionären Kräfte werden, die wirklich vom ganzen Volk ausgehende Enthüllungen organisiert ...
Lenin, Was tun?

1917 ergriff Lenins Partei, die "Avantgarde des Proletariats", in Russland die Macht. Die Partei wurde zum Mythos

Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!
Und, Genossen, es bleibe dabei;
Denn wer kämpft für das Recht,
Der hat immer Recht.
Gegen Lüge und Ausbeuterei.
Der das Leben beleidigt,
ist dumm oder schlecht.
Wer die Menschheit verteidigt,
Hat immer recht.
So, aus Leninschem Geist,
Wächst, von Stalin geschweißt,
Die Partei - die Partei - die Partei.

Mit Inbrunst gesungen von Ernst Busch: "Lied der Partei"

und regierte mit eiserner Hand. Aus dem Bürgerkrieg und aus dem Überfall der Deutschen ging die Sowjetunion als Sieger hervor. Im Kalten Krieg überraschte sie mit dem Sputnik und dem ersten Menschen im Weltraum.

Dennoch: Die Weltrevolution blieb aus. Es wurde immer klarer, dass der reale Sozialismus ein Holzweg der Geschichte war und die Parteifunktionäre als Nomenklatura in erster Linie eigene, privilegierte Interessen verfolgten.

1989 erklärte die Sowjetunion den Bankrott. Die Nomenklatura sagte dem Sozialismus ade. Sowjet-Funktionäre und -Manager eigneten sich das Volksvermögen an und verwandelten sich in Oligarchen (vgl. etwa Chodorkowskis Weg vom kommunistischen Komsomol-Funktionär zum reichsten Mann Russlands)

Vorbild Lenin?

Zurück zu den Intellektuellen von der Universität Salzburg, die "den Stammtisch mit links erobern" wollen.

Die "Subalternen" in Österreich sind offenbar zu dumm / zu verblendet, um dem "rechtskonservativen Aggressor und seiner Attacke auf den Wohlfahrtsstaat" (gemeint ist die "türkis-blaue Regierung") entgegenzutreten. Die "Subalternen" müssen dafür gewonnen und angeführt werden. Notwendig dazu ist ein "linker Populismus", den Sozialdemokraten und Grüne aufgerufen sind zu entwerfen.

Mit dem Sozialismus haben unsere "Linken" nichts mehr am Hut. Sie geben eine ganz andere Parole aus und demonstrieren dabei, dass sie den Zungenschlag des Stammtisches schon beherrschen: "Die Linke verteidigt also den aufgeklärten bürgerlichen Rechtsstaat gegen die postbürgerlichen Parteien der türkis-blauen Clique"

Das können Marxisten und Bürgerliche sich gleichermaßen auf der Zunge zergehen lassen: eine angeblich "authentisch akzeptierte Elite" nach Leninschem Vorbild verteidigt mit "linkem Populismus" den "aufgeklärten bürgerlichen Rechtsstaat"?

Ein Marxist:

An Lenin erinnert das Vorhaben, einfachen Leuten das "richtige" Bewusstsein zu vermitteln. Im Unterschied zu Lenin und den alten Kommunisten gehen Dimmel und Fürst an diese Aufgabe jedoch mit Arroganz und Verachtung für die "Subalternen". Den Intellektuellen missfällt eine Regierung, die von vielen "Subalternen" gestützt wird. Das halten die Intellektuellen kategorisch für "falsch" , statt nach den dafür verantwortlichen Interessen der "Subalternen" zu fragen. Kapitalismuskritische Ziele scheinen diese "Linken" nicht zu haben, obwohl das Kapital nach dem Scheitern des realen Sozialismus und dem Neustart der Globalisierung den ganzen Planeten seinem Verwertungsinteresse unterwirft. Ja, eine Alternative zum Kapitalismus ist zu entwickeln. Das erfordert neue Analysen (zB Piketty), neue Strategien und neue Organisationsformen, aber keine "Narrative" für den Stammtisch.

Ein Citoyen:

Bürger sind angesichts des erleichterten Zugangs zu Informationen heute mehr als je zuvor in der Lage, sich selbst ein Urteil über viele Vorgänge in der Welt zu bilden. Freie Bürger brauchen keine selbsternannte linke "Elite", die ihnen das "richtige" Bewusstsein mittels Stammtisch geeigneten "Narrativen" eintrichtert. Freie Bürger sind in der Lage, ihre Interessen selbst zu artikulieren und im Rahmen des Rechtsstaats zu verfolgen. Menschen dazu anzuhalten, primär selbst für den eigenen Unterhalt zu sorgen, statt auf Alimentierung durch den Staat zu setzen und Missbräuche im Sozialsystem abzustellen ist keine "Attacke auf den Wohlfahrtsstaat". Das ist eine elementare Voraussetzung dafür, dass arbeitende Steuerzahler Solidarbeiträge für arbeitsunfähige und hilfsbedürftige Personen akzeptieren.

Ich frage mich:

Erschöpft "links" sich in der Verteidigung des bürgerlichen Rechtsstaates? Ist der Rechtsstaat überhaupt gefährdet? Warum sind diese Intellektuellen so frustiert? Welche Rolle spielen dabei ihre beruflichen / ihre persönlichen Karriereinteressen? Haben ihre Perspektiven sich aufgrund der Personalpolitik der derzeitigen Regierung im "tiefen Staat" etwa verengt? Wie echt ist ihre Anteilnahme am Leben der "Subalternen"? Geht es ihnen um deren Interessen oder sollen sie mithilfe von Agitation auf "Stammtisch-Niveau" vor die Interessen einer "Elite" gespannt werden, der die Intellektuellen sich zugehörig fühlen? Kann aus diesem arroganten, ja, zynischen Ansatz überhaupt etwas Wünschenswertes hervorgehen?



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